Nationalrat, XXI.GP Stenographisches Protokoll 55. Sitzung / Seite 183

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Dr. Martin Graf: "Gelitten"? – Ermordet! Kinder, Säuglinge, Frauen!), die aber im historischen Kontext nur erklärbar sind durch das, was sich in diesem Jahr, exakt in diesem Jahr zum 60. Mal jährt (Abg. Dr. Ofner: Da wird es dann "bedeutungslos"!): der Überfall auf Jugoslawien. – Das betrifft zumindest den einen Teil, die AVNOJ-Dekrete.

Ich habe gerade eine historische Arbeit dazu gelesen. Wenn man eine derartige umfangreiche historische Arbeit – und das war, wie ich meine, keine parteiliche Arbeit – gelesen hat über das, was während des Nationalsozialismus stattgefunden hat, und das, was dann im Anschluss durch die AVNOJ-Dekrete stattgefunden hat, dann kommt man zumindest, Herr Abgeordneter Ofner, nicht auf die Idee, das eine mit dem anderen aufzurechnen (Abg. Dr. Ofner: Sie rechnen auf!), auch wenn ich das Leid konstatiere. (Abg. Dr. Ofner: Sie haben das falsche Buch gelesen, Kollege Öllinger!)

Weil Sie, Herr Bundeskanzler, gesagt haben, die drei Nachfolgestaaten, die gibt es nicht, so möchte ich gerade im Zusammenhang mit dem, was während des Nationalsozialismus passiert ist, hinweisen auf die Gräueltaten, die nicht nur im Bereich der SS, sondern auch im Bereich der Wehrmacht verübt worden sind, gerade durch Österreicher, zum Beispiel den Generaloberst Löhr. Da möchte ich auch darauf hinweisen, dass es österreichische Bundesländer waren – jetzt wieder österreichische Bundesländer, damals ostmärkische Gaue –, in deren Gebiet und durch deren Statthalter, Provinzstatthalter, Gauleiter diese Gräueltaten verübt wurden: Steiermark, Kärnten.

Es fällt schwer, Herr Bundeskanzler, in die ganzen Überlegungen nicht mit einzubeziehen – und damit bin ich wieder zurück beim Thema –, dass Sie oftmals auch geschwiegen haben: geschwiegen haben zu Erklärungen, angesichts deren es jedem in der Republik – auch uns, nicht nur Ihnen – gut angestanden wäre, laut zu protestieren. Ich sehe nicht ein, warum Kollegen Posch die Kritik wegen dieser Dreistaaten-Theorie ereilen soll, wo er doch auf andere ganz wichtige Fakten aufmerksam gemacht hat, nämlich auf den Umstand, dass gerade im Zusammenhang mit den Restitutionsverhandlungen einmal mehr für jeden erkennbar ein Stereotyp in die politische Debatte wieder eingeführt worden ist, das man schon überwunden geglaubt hat, nämlich die Ostküste: "Und einmal muss Ruhe sein!"

Das ist nicht nur einmal gekommen, das ist öfter gekommen, wenngleich, Herr Bundeskanzler – das gestehe ich Ihnen zu –, nicht in der laufenden Debatte, um das Ergebnis nicht zu gefährden. Aber hier in dieser Debatte hätte ich mir gewünscht, dass Sie deutlicher, als Sie das gemacht haben, gesagt hätten: Nie kann Ruhe sein zu dieser Thematik! Nie können wir das wieder gutmachen, was auch unsere Vorväter damals verbrochen haben.

Ich hätte mir gewünscht, Herr Bundeskanzler, dass Ihr Versuch der Entschuldigung für die späten Leistungen dieser Republik auch in eine klare Entschuldigung dieses Landes gegenüber den Opfern übergegangen wäre.

Gestatten Sie mir eine abschließende Bemerkung: Vor 16 Jahren – da war ich natürlich schon ein politischer Mensch – bin ich nach Wien gekommen. Mir war es bis zu diesem Zeitpunkt nicht vergönnt gewesen, auch jene kennen zu lernen, die damals während der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand geleistet haben. Das waren Jahre, die ich nicht missen möchte, nicht wegen der Erzählungen, sondern wegen der Lebenskraft und der politischen Überzeugung, mit der diese Menschen – die Furchtbares mitgemacht haben – damals in den achtziger Jahren für diese Republik ausgezogen sind, in die Schulen gegangen sind, um dort als Zeitzeugen mit den jungen Menschen zu reden, um sie zu überzeugen, um ihnen ihre Lebenserfahrungen mitzugeben. Das waren damals schon 80-jährige Menschen. Mit Begeisterung haben die das gemacht und mit vollem Einsatz! Von denen lebt heute niemand mehr. Von denen weiß ich auch, dass damals, als sie nach 1945 zurückgekehrt sind, von diesen eher einfachen Menschen keiner eine Leistung beansprucht hat und dass sie sehr unglücklich waren über das, was die Republik ihnen noch in den Achtzigern an Versuchen der Wiedergutmachung angeboten hat. Die sind 1945 zurückgekehrt und wollten eigentlich in ihre Wohnung kommen – das waren Mietwohnungen, denn nicht jeder hatte eine Eigentumswohnung –, und sie sahen, dass diese Mietwohnungen natürlich auch von Gefolgsleuten der Nazis okkupiert worden sind, samt ihrem


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