Parlamentskorrespondenz Nr. 273 vom 17.04.2002

GENERELLE ODER INDIVIDUELLE ANERKENNUNG FÜR WEHRMACHTS-DESERTEURE?

Debatte über Opfer der NS-Militärjustiz mit Sozialminister Haupt

Wien (PK) - Auf Verlangen der Grünen wurde am Nachmittag die Beantwortung einer Anfrage der Grünen durch den Sozialminister debattiert. Dabei sprachen sich die Sprecher der Regierungsfraktionen und Sozialminister Dr. HAUPT für eine auf den Einzelfall bezogene Vorgangsweise aus, während die Sprecher der Opposition generelle Lösungen einforderten.

Abgeordnete Mag. STOISITS (G) begründete das Verlangen, die Anfragebeantwortung des Sozialministers zu besprechen, damit, dass es hoch an der Zeit sei, den Widerstand in all seinen Facetten anzuerkennen. Dazu gehörten auch jene, die sich dem Dienst in der deutschen Wehrmacht entzogen haben. Die Wehrmachtsverweigerer hätten eine leidvolle Geschichte der Stigmatisierung und Diskriminierung hinter sich, sagte Stoisits.

Sie führte weiter aus, dass ca. 30.000 Menschen von der Militärgerichtsbarkeit der Wehrmacht zum Tode verurteilt worden seien und ein Großteil davon auch hingerichtet worden sei. Diejenigen, die dem Schicksal entkommen konnten, seien seelisch gebrochen. Stoisits bedauerte ausdrücklich, dass es bis heute nicht gelungen sei, Deserteure der Wehrmacht und Opfer der Militärgerichtsbarkeit als Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen. In diesem Zusammenhang erinnerte sie an den vom Nationalrat im Jahr 1999 angenommenen Entschließungsantrag, in dem die Aufarbeitung der Akten der Militärjustiz verlangt wird, um die Aufhebung der Urteile durchzusetzen. Deshalb bedauere sie auch, dass Bundesminister Haupt durch seine Anfragebeantwortung durchblicken lasse, dass die Desertion aus der deutschen Wehrmacht noch immer als Straftat gelte, was in Widerspruch zur Stellungnahme des Justizministers stehe.

Bundesminister Mag. HAUPT wies darauf hin, dass er in einer Anfragebeantwortung den derzeitigen Rechtsstatus und die Gesetzeslage zu erläutern, nicht aber seine persönliche Meinung darzulegen habe. Die Rechtspraxis bestehe seit über 56 Jahren, er sei aber auch dafür, dass man diese offene Frage einer Lösung zuführe. Vorher bedürfe es aber einer wissenschaftlichen Evaluierung dieses Themas, die noch ausstehe, aber dringend notwendig sei.

Haupt sprach sich dezidiert dafür aus, die Fälle individuell zu behandeln und unterstrich, dass damals die Justiz im üblen Dienst eines verbrecherischen Regimes gestanden sei. Er erinnerte vor allem an jene, die in den letzten Kriegstagen zum Volkssturm eingezogen worden sind und sich dem entzogen haben. Viele von denen seien zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen worden und daher Opfer des NS-Regimes. Der Minister hält es daher für wichtig, diesen Menschen eine symbolische Entschädigung zu gewähren, damit sie mit ihrer Heimat und den Mitmenschen ausgesöhnt sind. Er wünschte sich, dass dies schnell gehe, machte aber kein Hehl daraus, dass eine wissenschaftliche Prüfung Vorraussetzung sei und er Individualentscheidungen anstrebe. Die Diskussion sei behutsam zu führen und eigne sich nicht zur tagespolitischen Auseinandersetzung, stellte Haupt abschließend fest.

Abgeordnete Mag. LAPP (S) trat dafür ein, nicht nur für Deserteure eine Entschädigungsregelung zu finden, sondern auch für jene Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung und sexuellen Orientierung in die so genannte Schutz- oder Vorbeugehaft genommen worden sind. Sie thematisierte auch den Entwurf zu einem Bundessozialämter-Reformgesetz, wodurch in Hinkunft Opfer und Täter bei der gleichen Stelle ihre Ansuchen einreichen müssten, wogegen sie sich aussprach. Abgeordneter Dr. GRAF (F) ging später in seiner Wortmeldung darauf ein und versicherte, dass es aufgrund des Begutachtungsverfahrens zu keiner Kompetenzänderung kommen werde.

Abgeordnete DR. FEKTER (V) sprach sich ebenfalls für Einzelentscheidungen hinsichtlich politischer und sozialer Absicherung von Deserteuren der deutschen Wehrmacht aus. Eine kollektive Lösung würde ihres Erachtens nur neues Unrecht schaffen. Auch die deutsche Rechtslage, so die Rednerin, sehe Einzelentscheidungen vor. Ein Großteil der Urteile der Militärjustiz sei bereits als Unrecht geklärt worden, die anderen Fälle bedürften aber einer individuellen Beurteilung, bekräftigte Fekter.

Abgeordneter Dr. GRAF (F) sah hinter den Anfragen der Abgeordneten Stoisits "Fangfragen", was der Minister sofort erkannt habe. Auch er  lehnt eine Generallösung ab und meinte, dass Soldaten nicht grundsätzlich Mörder, Deserteure nicht grundsätzlich Opfer seien. Man könne heute gar nicht mehr erahnen, in welcher Situation sich damals die Menschen befunden hätten.

Abgeordneter Dr. PILZ (G) strich den Mut und das Verantwortungsbewusstsein hervor, das dazu gehört habe, sich dem Dienst in der deutschen Wehrmacht zu entziehen. Jeder einzelne Deserteur habe die Wehrmacht geschwächt; deshalb müsse es außer Streit stehen, diese politisch und sozial anzuerkennen. Die Argumente für Individualentscheidungen wollte er deshalb nicht gelten lassen, da es bei der Anrechnung von Vordienstzeiten von SS-Angehörigen und Insassen von Glasenbach ebenfalls Generallösungen gegeben habe. Er könne auch nicht nachvollziehen, dass heute noch die deutsche Wehrmacht als rechtlicher Nachfolger des Bundesheeres gelte. Diese konstruierte Kontinuität mache deutlich, wie wichtig die Wehrmachtsausstellung sei, sagte Pilz. Die sozial- und strafrechtliche Anerkennung der Deserteure werde zeigen, ob Österreich bereit sei, eine der letzten offenen Fragen zu lösen und damit mit der NS-Vergangenheit zu brechen.

(Schluss Anfragebeantwortung/Forts. NR)