Parlamentskorrespondenz Nr. 1142 vom 21.11.2017

Bundesrat diskutiert Weißbuch zur Zukunft Europas

EU-Ausschuss beschließt Mitteilung an Brüssel und drängt auf raschere Entscheidungen und Wahrung des Subsidiaritätsprinzips

Wien (PK) – Zahlreiche Herausforderungen wie die Globalisierung bis hin zu den Auswirkungen neuer Technologien auf Gesellschaft und Arbeitsplätze sowie außenpolitische Krisenherde, Sicherheitsfragen, nicht zuletzt aber auch die zunehmende EU-Skepsis und der Brexit – das alles hat die EU-Kommission dazu veranlasst, ein Weißbuch zur Zukunft Europas zu erstellen. Präsentiert wurde es am 1. März 2017. Das Weißbuch beschreibt jene Faktoren, die den Wandel im nächsten Jahrzehnt prägen, und skizziert fünf Zukunftsszenarien, wie sich Europa bis 2025 entwickeln könnte. Das Thema stand heute auf der Tagesordnung des EU-Ausschusses des Bundesrats.

Die fünf Szenarien für die EU bis 2025

Szenario Nr. eins wird im Weißbuch mit der Überschrift "Fortsetzen" zusammengefasst, womit gemeint ist, die Politik weiter zu verfolgen wie bisher.

Die zweite Möglichkeit sieht die Kommission darin, sich ausschließlich auf das Funktionieren des Binnenmarkts zu konzentrieren.

Ein weiterer Vorschlag betrifft die Möglichkeit einer stärkeren Zusammenarbeit jener, die dies wollen, also quasi einer "Koalition der Willigen". Das kann Bereiche wie Verteidigung, Innere Sicherheit, Steuern und Soziales umfassen.

"Weniger, dafür effizienter" ist Szenario Nr. vier, wobei man sich auf ausgewählte Politikbereiche wie etwa Sicherheitspolitik oder Terrorismusbekämpfung konzentriert. Das soll ein rascheres und entschiedeneres Handeln ermöglichen.

Schließlich kann sich die Kommission auch "Viel mehr gemeinsam machen" vorstellen. Das bedeutet eine Ausweitung der Kompetenzen, Ressourcen und Entscheidungen der EU auf sämtliche Arbeitsbereiche – etwa auch auf Klimaschutz, nachhaltige Entwicklung und Verteidigung. Damit einhergehen soll auch, dass Entscheidungen schneller getroffen und umgesetzt werden.

EU–Ausschuss drängt auf bessere Handlungsfähigkeit der EU und die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips

Der EU-Ausschuss des Bundesrats hat dazu eine Mitteilung an die EU Kommission, den Rat und das EU Parlament mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ und Grünen beschlossen. Die FPÖ konnte sich damit nicht identifizieren und verweigerte daher die Zustimmung.

In der Mitteilung unterstreichen die LändervertrerInnen ihr Bekenntnis zu einem Europa des Friedens und der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie sehen es als dringend geboten, die Handlungsfähigkeit der EU ins Zentrum zu rücken und fordern in diesem Zusammenhang eine Verstärkung des Subsidiaritätsprinzips. "Wir setzen uns darum für eine stärkere Beachtung der Subsidiarität vor der Vorlage eines neuen Rechtsakts ein", heißt es wörtlich in der Mitteilung.

Angesichts der Paradise Papers plädiert der Ausschuss vor allem dafür, dass Steuern dort bezahlt werden, wo sie erwirtschaftet werden. Das gelte insbesondere für multinationale Konzerne.

Besonderen Wert legt der Ausschuss auch auf die soziale Komponente der EU. Damit Europa nicht scheitert, müsse es die Menschen schützen, indem es eine Perspektive auf Wohlstand gibt. Neben der Wettbewerbsfähigkeit und funktionierenden Märkten sei darauf zu achten, dass niemand zurückbleibt. Der Bundesrat unterstützt explizit die Forderungen von Kommissionspräsident Juncker zur sozialen Absicherung der Bürgerinnen und Bürger in der EU.

Diese Aspekte unterstrich auch Ausschussvorsitzender Edgar Mayer (ÖVP/V). Mayer merkte an, dass sich der EU-Ausschuss immer wieder schwerpunktmäßig mit diesen Fragen auseinandersetzt und erinnerte in diesem Zusammenhang an die Enquete der Länderkammer vom 7. November. Zudem wies er auf die Vorarbeiten zur Erklärung der Landtagspräsidentinnen und -präsidenten aus Deutschland, Österreich und Südtirol zum Weißbuch anlässlich der zweiten Europakonferenz Ende November hin. Der Ausschussvorsitzende kritisierte einmal mehr die steigende Zahl der delegierten Rechtsakte und zeigte sich erfreut über die Einrichtung einer Task Force zur Subsidiarität.

Auch seitens des Außenministeriums hält man die Dynamik aufgrund des Weißbuchs für positiv, denn jetzt sei die Zeit für wichtige Weichenstellungen. Österreich werde sich während seiner Ratspräsidentschaft intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. Für die österreichische Bundesregierung sei es wichtig, wie der Vertreter des Außenressorts betonte, sich nicht hinter einer Institutionendebatte zu verstecken, vielmehr habe ein pragmatischer Lösungsansatz zu aktuellen Themen, wie Migration und Sicherung der Außengrenzen, oberste Priorität. Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips stehe ebenfalls im Interesse heimischer EU-Politik wie auch die Weiterführung einer verstärkten Zusammenarbeit und die Vertiefung der Eurozone. Einmal mehr wurde die Notwendigkeit hervorgehoben, dem Westbalkan eine europäische Perspektive zu bieten.

Herausforderungen

Der Brexit sei ein Weckruf gewesen, hieß es im Ausschuss aus dem Außenministerium, Europa müsse sich die Frage stellen, wie es in Zukunft außen- und wirtschaftspolitisch stringenter vorgehen kann.

Als bestimmende Faktoren, die die Zukunft Europas prägen, nennt das Weißbuch unter anderem die Tatsache, dass das Gewicht Europas - obwohl es der größte Binnenmarkt mit der am zweithäufigsten weltweit genutzten Währung, die führende Handelsmacht und der größte Geber von Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe ist – in dem Maße abnimmt, in dem andere Teile der Welt wachsen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Dazu kommen Konflikte an den Außengrenzen der Union, Krieg und Terror im Nahen Osten und in Afrika sowie eine zunehmende Militarisierung in allen Teilen der Welt, die die zunehmenden weltweiten Spannungen deutlich macht. Obwohl die Welt immer vernetzter wird, gebe es Tendenzen zum Isolationismus und zu Zweifel an der Zukunft des internationalen Handels und des Multilateralismus.

Als eine zentrale Frage macht die Kommission soziale Ungleichheit sowie die öffentliche und private Verschuldung fest. Es bestehe die Gefahr, dass es der heutigen Jugend zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg schlechter gehen könnte als ihren Eltern. Europa könne es sich aber nicht leisten, die am besten ausgebildete Altersgruppe, die es je hatte, zu verlieren und zuzulassen, dass Ungleichheit ihre Zukunftschancen ruiniert. Zudem sieht es die Kommission als eine Notwendigkeit an, die sozialen Sicherungssysteme, die sie als die fortschrittlichsten bezeichnet, gründlich zu modernisieren, um bezahlbar zu bleiben und mit der demografischen Entwicklung und der beruflichen Realität Schritt halten zu können.

Auch die Digitalisierung stellt eine enorme Herausforderung dar. Bereits jetzt seien die Trennlinien zwischen ArbeitnehmerInnen und Selbständigen, Waren und Dienstleistungen, KonsumentInnen und ProduzentInnen verwischt. Die beruflichen Umwälzungen sind weitreichend. Daher müsse man, um negative Auswirkungen zu mindern, in der Ausbildung und in den Systemen für ein lebenslanges Lernen umdenken. Die Veränderungen in der Arbeitswelt erfordern auch neue soziale Rechte.

Gleichzeitig hat sich die EU im Rahmen einer verantwortungsvollen Klimapolitik zu einer ehrgeizigen Dekarbonisierung der Wirtschaft und zur Verringerung schädlicher Emissionen verpflichtet. Das bedeute, innovative Lösungen auf die einheimischen und internationalen Märkte zu bringen.

Martin Preineder (ÖVP/N) merkte dazu an, die EU habe bisher viele Aufgaben gut erfüllt, vieles sei aber nicht gut gelaufen und dafür sei der Brexit ein klares Zeichen. Das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU könne aber auch zeigen, was man damit verliert. In der EU sei vor allem eine raschere Entscheidungs – und Kompromissfähigkeit gefragt, sagte Preineder, der sich auch seinerseits für die Subsidiarität stark machte. Er ist aber dafür, Großkonzerne mehr in die Verantwortung zu nehmen und meinte, in der Frage der Sicherheit und des Grenzschutzes müsse man von der EU mehr erwarten.

SPÖ- und ÖVP-Stimmen für eine Stärkung der sozialen Komponente in der EU

In der Diskussion unterstrich vor allem die SPÖ die Notwendigkeit einer sozialen Komponente innerhalb der EU. Auch aus dem Außenministerium hieß es, die soziale Säule sei ein wichtiger Schritt, die Kompetenzen müssen jedoch klar sein. In Göteborg habe man 20 Grundsätze festgelegt, die treibende Kraft dahinter sei Kommissionspräsident Juncker gewesen. Sie seien jedoch unverbindlich, jetzt gehe es um die Umsetzung.

Die EU sei nicht nur eine Sicherheitsgemeinschaft, eine Verteidigungsunion und ein Grenzwächterstaat, meinte Stefan Schennach (SPÖ/W). Vielmehr gehe es um einen Kontinent der Innovation aber auch der sozialen Verantwortung. In diesem Sinne begrüßte Schennach die Erklärung vom Gipfel in Göteborg. Bisher fehle nämlich eine europäische Arbeitspolitik und Steuerpolitik, Sozialdumping sei ein Problem. Die Komponente Mensch muss viel mehr vorkommen, ergänzte seine Fraktionskollegin Ingrid Winkler (SPÖ/N), und das müsse auch spürbar werden, damit Europa Akzeptanz bei den BürgerInnen findet.

In diesem Sinne argumentierte auch der Vertreter der Arbeiterkammer, der von einer Schieflage zwischen sozialen Rechten und wirtschaftlichen Freiheiten sprach. Er forderte daher, dass soziale Grundrechte gleich gewichtet werden. Notwendig sei es, eine Nivellierung nach unten und die Aushebelung von Standards zu verhindern. Um die steuerpolitische Handlungsfähigkeit zu erhöhen und die Steuerpolitik fairer zu gestalten, plädierte er für ein Abgehen vom Einstimmigkeitsprinzip. Ihm zufolge muss das EU-Budget in Richtung soziale Ziele weiter entwickelt und die goldene Investitionsregel zur antizyklischen Wirtschaftspolitik eingeführt werden. Die Wirtschaftspolitik dürfe sich nicht nur nach dem Export ausrichten, sagte er, sondern auch auf die Binnenmarktnachfrage. Eine Kompetenzübertragung an die EU erfordere vor allem auch ein starkes EU-Parlament.

Bundesrat Stefan Schennach (SPÖ/W) warnte in seiner Stellungnahme zudem davor, die EU dort, wo sie Souveränität hat, durch nationalstaatliche Alleingänge zu behindern. Er sprach sich auch gegen ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten aus, denn dieses habe man schon in Bezug auf die Eurozone und Schengen. Eine weitere Abkoppelung würde Europa schwächen, zeigte er sich überzeugt. Notwendig sei es, die Geschwindigkeit der Entscheidungen zu steigern und den Schengenraum zu schützen.

Auch die ÖVP Mandatare halten es für notwendig, die soziale Komponente der EU zu stärken. Für Ferdinand Tiefnig (ÖVP/O) ist es aber unerlässlich, sich intensiv mit dem Internethandel zu beschäftigen und sich über die Digitalisierung und Automatisierung Gedanken zu machen. Das könne nicht alleinige Aufgabe der Mitgliedstaaten sein, sagte er. Auch die Zügelung des Kapitals und die Einführung der Finanztransaktionssteuer sollte Thema sein, meinte Eduard Köck (ÖVP/N). Er ist auch dafür, soziale Transferleistungen an die Lebenshaltungskosten anzupassen.

Sozialunion: FPÖ skeptisch

Selbstverständlich darf man Menschen nicht zurücklassen, reagierte Monika Mühlwerth (FPÖ/W) auf die Forderungen nach einer sozialen Union, die FPÖ habe damit aber ihre Probleme. Sie erinnerte in diesem Zusammenhang an Griechenland, wo es den Menschen trotz Milliardenhilfe noch immer nicht besser gehe. Die Staaten müssten selbst wieder auf die Beine kommen.

Helfen können nur eine Politik, die die Menschen auch verstehen, das heißt, weg von Dingen wie Allergenverordnung oder die Höchstleistung von Staubsaugern. Für die Sicherung der Außengrenzen sei jedoch die EU zuständig.

Kritisch äußerte sich Mühlwerth auch zu einer etwaigen EU-Mitgliedschaft der Westbalkanstaaten. Selbstverständlich sei dies ein wichtiges Thema und vor allem Österreich sollte sich hier engagieren. Angesichts der Probleme in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaft hält Mühlwerth eine diesbezügliche Erweiterung für den Bestand der EU gefährlich. Die EU müsse so reformiert werden, dass sich die BürgerInnen zugehörig fühlen, sagte sie.

Grüne: EU-BürgerInnen mehr einbinden

Für Heidelinde Reiter (Grüne/S) kann diese Zugehörigkeit durch eine stärkere Bürgerbeteiligung erzielt werden. Die bisherige Debatte ist ihrer Meinung nach viel zu abgehoben. Reiter plädierte für mehr Pragmatismus beim Ausarbeiten von Lösungen und meinte, es sei oft sehr schwierig, den Widerspruch zwischen Subsidiarität einerseits und Vertiefung andererseits aufzulösen.

Dazu meinte der Vertreter des Außenministeriums, es sei vorgesehen, die europäische Bürgerinitiative noch bürgernäher zu gestalten. Man werde daher die bisherigen Bestimmungen überarbeiten mit dem Ziel, es zu erleichtern, eine Initiative zu starten und Unterschriften zu leisten. Außerdem will man die Bürgerkonvente ausweiten.

Vor den EU-Wahlen 2019 will EU eine Vision vorstellen können

Das Weißbuch stellt den Beginn der Diskussion dar. Den Bürgerinnen und Bürgern Europas soll man laut Juncker jedenfalls zur Europawahl im Juni 2019 einen Plan, eine Vision und einen Weg vorstellen können. Mit dem Weißbuch wird eine Debatte darüber angestoßen, welchen Weg die EU einschlagen soll. Sie soll aber auch helfen, sich auf das Wesentliche zu besinnen, heißt es in der Einleitung des Dokuments.

Zusätzlich zum Weißbuch zur Zukunft Europas hat die EU-Kommission im ersten Halbjahr 2017 fünf thematische Reflexionspapiere vorgelegt: "Soziale Dimension der EU", "Globalisierung meistern", "Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion", "Zukunft der europäischen Verteidigung" und "Zukunft der EU-Finanzen".

Am 13. September skizzierte Kommissionspräsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union ein auf drei Prinzipien  - Freiheit, Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit - basierendes sechstes Szenario, und zwar eine Mischung aus den Szenarien vier und fünf. Er forderte dabei die Konvergenz der EU-Staaten als gemeinsames Ziel mit dem Ziel einer "stärkeren, geeinteren und demokratischeren EU". Nicht eingegangen ist der Kommissionspräsident dabei auf ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

Am 25. März verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU 27 die Römer Erklärung zur Zukunft der EU. Darin wird der Zusammenhalt und die Geschlossenheit der 27 bekräftigt und zentrale Ziele für Europa wurden definiert: "sicher und geschützt, wohlhabend und nachhaltig, sozial und stärker auf der globalen Bühne". Ratspräsident Tusk wurde schließlich beauftragt, die Diskussion und jüngsten Reflexionen und Ideen zur Zukunft Europas in ein konkretes Arbeitsprogramm zu übersetzen.

Tusk hat zudem am Rande des Europäischen Rats vom 20.Oktober eine sogenannte "Leader's Agenda" vorgeschlagen, die bis zum Ende der Funktionsperiode des Europäischen Parlaments und der Kommission 13 Gipfeltreffen – darunter eines im September 2018 in Wien zum Thema Sicherheit – vorsieht. Zur Beschleunigung gemeinsamer Entscheidungen sollen von den Mitgliedstaaten in Form von "Decision notes" Problembereiche aufgezeigt werden und damit ernsthafte politische Diskussionen ermöglichen. Gibt es keine Einigung, dann könnte die Frage auch in Form einer vertieften Zusammenarbeit gelöst werden.

Auch das Europäische Parlament (EP) hat am 16. Februar 2017 drei ambitionierte Entschließungen zur Zukunft der EU angenommen. So soll nach Meinung der ParlamentarierInnen unter anderem der Ministerrat in eine wirkliche zweite Gesetzgebungskammer umgewandelt werden, das EP spricht sich auch dafür aus, dass die Beschlüsse vollständig mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden, um wichtige Gesetze nicht blockieren zu können. Außerdem soll ein EU-Finanzminister installiert werden. (Schluss EU-Ausschuss des Bundesrats) jan


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