11.56

Bundesrat Marco Schreuder (Grüne, Wien): Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr ge­ehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, das Thema, das wir heute behandeln, ist ein sehr erfreuliches, obwohl die Geschichte sehr unerfreulich ist. Ich glaube, so muss man das zusammengefasst formulieren.

Warum ist das ein so wichtiges Thema? – Das reiche jüdische Leben und die Kultur, die auch viel mit dem Alltagsleben der Juden und Jüdinnen in unserem Land zu tun hat, haben sehr viele Spuren, historische Spuren und auch sehr viele historische Wunden in unserem Land hinterlassen. Genau deswegen ist das, was wir heute beschließen, so wichtig.

Ich möchte – ich glaube, ich habe das hier schon einmal gemacht, aber Erinnerung ist manchmal ganz hilfreich – nur ein Beispiel der jüdischen Gemeinde in Wien nennen, weil ich doch ein Wiener Abgeordneter bin, sodass ich darauf den Fokus legen möchte.

Wie reich war das jüdische Leben in dieser Stadt? – Wir hatten in Wien vier jüdische Gemeinden. Warum haben wir jetzt die vierte jüdische Gemeinde? Warum gibt es da keine historische Kontinuität? – Der Grund dafür ist, dass es in diesem Zusammenhang auch eine Geschichte der Vertreibung, der Verfolgung und der Ermordung gibt. Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass das sehr oft passiert ist.

Die erste jüdische Gemeinde, die wir kennen, stammt noch aus dem Mittelalter. Wir wis­sen, dass das die Zeit der Babenberger ist, als Richard Löwenherz entführt worden ist und in Dürnstein saß. Damals gab es schon Berater und Finanzberater der Babenberger. Einen kennen wir sogar namentlich, nämlich Schlomo, der übrigens der erste Jude in Wien ist, den wir auch namentlich kennen, aber es gab sicherlich eine jüdische Tradition schon viel länger davor. Wer sich übrigens das kulturelle Erbe dieser ersten jüdischen Gemeinde anschauen möchte, kann das beispielsweise in der Dependance auf dem Judenplatz machen. Unterhalb des Schoah-Denkmals kann man sich die Synagoge des Mittelalters anschauen. Es gibt da eine ganz tolle Videoinstallation des Jüdischen Mu­seums, wo man sehen kann, wie die jüdische Community in Wien damals ausgeschaut hat und wie die Menschen gelebt haben. Damals gab es noch das Wort Ghetto, und man sieht, wie diese Stadt in der Stadt ausgesehen hat. Das ist sehr spannend.

Warum gibt es diese erste Gemeinde nicht mehr? – Man hat im 14. Jahrhundert die Juden vertrieben, und danach hat es keine Juden mehr in der Stadt gegeben.

Dann gab es eine zweite Gemeinde in der Neuzeit, bis zum Barockzeitalter. Wenn man sich die historischen Spuren dieser Gemeinde anschauen will, dann geht man in den 9. Bezirk. Damals mäanderte die Donau noch ganz anders durch die Stadt, damals waren der 9. Bezirk und der 2. Bezirk sozusagen eine Insel, und die Wiener haben diese Insel auch als Mazzesinsel bezeichnet. Auf dieser Mazzesinsel hat es auch einen Fried­hof gegeben. Dieser Friedhof liegt heute im 9. Bezirk in der Seegasse. Dort ist jetzt ein Pensionistenwohnheim der Stadt Wien, und wenn man dort durchgeht, sieht man hinten im Hof die Grabsteine aus der Neuzeit und dem frühen Barock. Dort kann man sich das Erbe der zweiten jüdischen Gemeinde anschauen. Im Übrigen kann man sich in der Mauer rundherum auch Stücke aus der ersten jüdischen Gemeinde anschauen. Als man nämlich im Zuge des Baues der Ringstraße uralte Grabsteine aus dem Mittelalter gefunden hat, hat man sie dort in der Mauer eingelassen, um das auch der Bevölkerung zu zeigen.

Warum gibt es diese zweite Gemeinde nicht mehr? – Weil um 1670 ein gewisser Kaiser Leopold – weswegen der 2. Bezirk, den man früher Mazzesinsel nannte, auch heute noch Leopoldstadt heißt – die Juden vertrieben hat: Deswegen gibt es keine zweite Ge­meinde mehr.

Die dritte Gemeinde haben wir Josef II. zu verdanken, der mit dem Toleranzpatent er­möglichte, dass auch andere Konfessionen in dieser Stadt leben konnten. Zu dieser Zeit gab es eine ganz reiche Geschichte und ein ganz reiches kulturelles Erbe, das zu schil­dern hier den Rahmen total sprengen würde. Diese Gemeinde existierte auch während des Fin de Siècle, als diese wunderbare Kultur rund um 1900 hervorgebracht wurde, die wir ja zu Recht lobpreisen und weswegen hoffentlich nach der Pandemie wieder Mil­lionen Menschen als Touristinnen und Touristen nach Wien kommen werden. Auch das beinhaltet ein reiches jüdisches Erbe. Dieses jüdische Erbe und deren Schöpfer wurden 1938 vernichtet, ermordet, verfolgt, getötet.

Warum ist das, was wir heute beschließen, so wichtig? – Wir haben heute die vierte jüdische Gemeinde, und in diesem Zusammenhang ergibt sich eine Frage, die wir uns immer wieder stellen müssen. Wir hatten vor 1938 hier 200 000 Juden und Jüdinnen, jetzt hat die Kultusgemeinde in Wien etwa um die 8 000 Mitglieder, und auch wenn man die Juden und Jüdinnen, die nicht organisiert sind – weil es ja auch Juden und Jüdinnen hier gibt, die nicht Mitglied in der Kultusgemeinde sind –, mitzählt, ist das trotzdem eine überschaubare beziehungsweise kleine Zahl von Menschen, die gleichzeitig dieses rie­sige Erbe bewältigen muss. Das könnte eine so kleine Gemeinde von sich aus gar nicht bewältigen. Deswegen haben wir zum Beispiel betreffend die Friedhöfe immer so lange diskutiert, wie wir das finanzieren.

Eine ganz wichtige Frage ist, welches jüdische kulturelle Erbe wir heute für die zukünftige Generation schaffen. Diese wichtige Gemeinde wird und muss immer ein Bestandteil dieses Landes sein. Das betrifft ja eigentlich nicht nur jüdisches Erbe, sondern das ist ja unser österreichisches Erbe, das auch eine jüdische Facette hat. Das ist auch wichtig zu betonen. Und die Frage lautet: Wie schaffen wir es, den Menschen eine Möglichkeit zu geben, auch heute eine jüdische Identität und eine jüdische Kultur für die zukünftigen Generationen zu schaffen?

Da geschehen ja tolle Dinge. Ich erwähne etwa das jüdische Filmfestival und andere Veranstaltungen. Das Jüdische Museum macht hervorragende Ausstellungen auch im zeitgenössischen Kontext. Das ist meines Erachtens ganz, ganz wichtig, und daher ist es so gut, dass wir das heute beschließen.

Noch etwas Interessantes möchte ich festhalten, denn ich habe ja auch sehr viel Kontakt mit einer jungen jüdischen Generation: Es gibt eine Parallele zwischen – ich drücke das einmal so aus – der Tätergeneration und der Opfergeneration, wiewohl ich weiß, dass das ein bisschen generalisierend ist. Das Jahr 1988 war das Gedenkjahr an 50 Jahre Anschluss. Ich erlebte das damals in der Schule, und ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass wir als junge Generation angefangen haben, die ältere Generation zu fragen: Was ist denn da eigentlich geschehen? (Vizepräsident Raggl übernimmt den Vorsitz.)

Ich dachte immer, dass dieses Verschweigen beziehungsweise dieses Nicht-darüber-reden-Wollen eine typische Reaktion der sogenannten Täter und Täterinnen gewesen sei, bis ich dann die junge jüdische Generation kennengelernt habe, und diese jungen Menschen sagten mir, dass sie dieses Nicht-darüber-reden-Wollen auch in ihrer Ge­meinde ganz stark wahrgenommen haben. Da gibt es auch ein Generationengefälle. Die Menschen der jungen jüdischen Generation sind ganz selbstbewusst jüdisch. Sie sagen ganz selbstbewusst: Ich bin Jüdin, ich bin Jude, ich bin Österreicher, ich bin Österrei­cherin, und ich bin beides. Sie sagen: Ich bin beides gerne. Ich bin in dieser Stadt und ich will auch leben können und meine Kultur hier haben. Ich will meine Sichtbarkeit hier haben.

Ich finde es gut, dass wir dieser Generation heute diese Sichtbarkeit auch gewährleisten. Deswegen freue ich mich über diesen Akt. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, und wir stimmen natürlich gerne zu. (Beifall bei Grünen und ÖVP sowie bei BundesrätInnen der SPÖ.)

12.04

Vizepräsident Dr. Peter Raggl: Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Se­bastian Kolland. Ich erteile es ihm. – Bitte.