16.02

Bundesrätin Mag. Daniela Gruber-Pruner (SPÖ, Wien): Hohes Präsidium! Werter Herr Bundeskanzler! Geschätzte Frau Ministerin! Sehr geehrte Zuseherinnen und Zuseher! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Warum wir heute eine Dringliche Anfrage stellen, sehr geehrte Damen und Herren? – Weil wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemo­kra­ten uns Sorgen machen  Sorgen um die vielen Familien in unserem Land, Sorgen um die Eltern und Erziehungsberechtigten, Sorgen um die Jugendlichen und um die Kinder, die zu einem überwiegenden Teil jetzt, nach über einem Jahr Coronapandemie, einfach nicht mehr können.

Jede und jeder hier im Raum, die oder der denkt: Da muss man halt jetzt durch, da muss man die Zähne zusammenbeißen, das schaffen wir schon!, lebt in einer absoluten Blase und hat offensichtlich nicht mit den vielen Familien zu tun, die es sich nicht mehr einfach richten können. Familien, die aktuell nicht belastet sind, sind die absolute Ausnahme. Für all diese Familien, für alle, die gerade eine schwere Zeit haben, denen die Kraft ausgeht, die Sorgen haben, für all diese stellen wir diese Dringliche Anfrage an Sie, Herr Bundeskanzler.

Weil ich mir nicht sicher bin, ob Sie, Herr Kanzler, und alle Ihre Kollegen in der Regierung die Lebenssituation dieser vielen Familien in Österreich wirklich kennen, möchte ich Ihnen schildern, womit diese Familien zu kämpfen haben. Vielleicht wird Ihnen dann klarer, dass die aktuellen Maßnahmen für die Familien nicht ausreichen und dass Familien einfach mehr Respekt, mehr Verantwortung brauchen.

Thema Nummer eins: Familien kämpfen um ihre Existenzgrundlage. Immer wieder versuchen wir, Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Kollegen und Kolleginnen dafür zu sensibilisieren, was es denn bedeutet, wenn Elternteile den Job verlieren, arbeitslos werden und von jetzt auf gleich mit der Hälfte des Monatseinkommens auskommen müssen. Wie, frage ich Sie, soll man das bitte machen?

Schon die Kurzarbeit macht sich nach den vielen Monaten finanziell stark bemerkbar, und die Menschen haben größtenteils ihr Erspartes aufgebraucht. Das löst auch einen unglaublichen Stress, einen Druck aus. Wie kann man mit der Hälfte des Einkommens alle laufenden Rechnungen bezahlen? Warum kostet es Sie so eine Überwindung, sich vorzustellen, dass alle Menschen einfach halbwegs ordentlich abgesichert sind?

Es geht nicht um diesen unsäglichen Mythos der sozialen Hängematte. Die Menschen haben sich diese Situation nicht ausgesucht. Nein, hie und da einmal ein Almosen von 200 Euro nimmt den dauerhaften Stress nicht und lindert die Not nicht nachhaltig. Solche Almosen sind nicht treffsicher. Leute, denen es gut geht, reiben sich die Hände und freuen sich über ein paar Hundert Euro, Menschen aber, die zu wenig haben, hilft so etwas nicht dauerhaft. Da muss schon eine Änderung des Systems her, wie beispiels­weise eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf 70 Prozent oder eine Kindergrund­sicherung, wie sie die Volkshilfe vorschlägt. Solche Ideen würden Familien in der Not nachhaltig helfen.

Die Konsequenzen der monatelangen Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit treffen mittlerweile auch die Mittelschicht. Damit trifft es auch die Kaufkraft in diesem Land, und darum ist es aus unserer Sicht nicht nur moralisch verwerflich, sondern einfach auch wirtschaftlich nicht schlau, so viele Menschen in Existenznot zu lassen. (Beifall bei der SPÖ.)

Dann gibt es da auch noch – ich weiß, Sie hören das nicht gern, Herr Bundeskanzler – die Familien, die bereits vor der Pandemie armutsbetroffen waren. Zweites Thema also: Familien kämpfen mit Armut.

Bei diesen Familien sind 350 000 Kinder betroffen, 350 000 Kinder in diesem Land sind von Armut betroffen! Wir wissen – alle von uns wissen das –, dass in Familien vieles vererbt wird, der Reichtum genauso wie die Armut. Das bedeutet, man bekommt Chancen und Möglichkeiten mitvererbt oder eben nicht. So ist das in Österreich, aber so, wie das bei uns ist, ist es halt nicht gut für eine Gesellschaft, und es müsste nicht so sein.

Armut – da bin ich mir ganz sicher – zuzulassen ist nicht gescheit, weil daraus ganz viele Folgen entstehen, die viel teurer sind, als Menschen von vornherein ordentlich abzu­sichern. Es ist Ihnen und Ihren Kollegen offenbar lieber, Herr Bundeskanzler, dass chronische Erkrankungen, die aus Armut resultieren, und mangelhafte Bildungs­ab­schlüsse, die oft durch Armut entstehen, im Erwachsenenalter teuer bezahlt werden, als jedem Kind ein Aufwachsen in ordentlicher Absicherung zu gönnen und damit auch Chancen zu ermöglichen.

Das ist für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wirklich schwer erträglich und schwer zu verstehen, denn die Aufgabe der Politik ist es, zu handeln, wenn es Missstände gibt, und dass in unserem Land fast 1,47 Millionen Menschen in Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung leben oder sogar manifest arm sind, ist ein Missstand und eine Schande für unser Land. Damit Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, ja nicht glauben, wir adressieren nur Menschen, die arbeitslos sind: Fast 300 000 Menschen sind, obwohl sie arbeiten, obwohl sie einer Erwerbsarbeit nachgehen, arm. Das ist doch ein Wahnsinn!

Drittes Thema: Familien kämpfen mit der psychischen Belastung. Eine dauerhafte exis­tenzielle Bedrohung – das wissen wir, oder zumindest diejenigen, die empathisch sind, wissen es – schlägt sich natürlich auch auf die körperliche Gesundheit und auf die psychische Gesundheit nieder.

Herr Bundeskanzler, Sie wissen, wie schlecht der psychische Gesundheitszustand der österreichischen Bevölkerung aktuell ist – dafür gibt es fast täglich neue Studienergeb­nisse. Die älteren Menschen leiden genauso wie die jüngeren, das kann man mittlerweile wie gesagt aus zahlreichen Studienergebnissen ablesen. Man kann das nicht mehr ignorieren, und ich frage mich: Was muss noch auf dem Tisch liegen? Welche Zahlen braucht es noch, um zu erkennen, dass es da Handlungsbedarf gibt? Man darf nicht immer warten, wie das Beispiel der Frauenmorde zeigt, bis die Dinge eskalieren. Man muss die Alarmglocken hören und man muss die Warnsignale sehen, denn psychische Dauerbelastung ist enorm gefährlich und auf lange Sicht ein Riesenproblem.

Herr Kanzler, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, ich hatte vor wenigen Tagen ein Onlinemeeting mit Kinder- und JugendpsychiaterInnen aus verschiedenen Bundes­ländern. Was sie schildern, ist alarmierend, die Zahlen in den Ambulanzen und in den Stationen gehen mittlerweile durch die Decke.

Es handelt sich um schwere Depressionen, es handelt sich um Suizidgefährdung, es handelt sich um Angststörungen und es handelt sich um Essstörungen massivster Art und Weise. Alle, die sich ein bisschen mit Essstörungen auskennen, wissen, die Behand­lung von Essstörungen dauert erheblich länger als die Behandlung anderer psychischer Erkrankungen, das heißt, die Betten und die Plätze sind länger belegt, und das parallel zu mehr Fällen und mehr Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Die Psychiatrien sind am Ende ihrer Kapazitäten, und es ist eine Frage der Zeit, bis es auch dort eskaliert und bis wir ich muss es so hart ansprechen die ersten Toten zu verzeichnen haben. Diese Verantwortung möchte ich nicht übernehmen müssen. (Beifall bei der SPÖ.)

Das bedeutet aktuell, Familien bekommen psychisch oder psychiatrisch kranke Kinder wieder mit nach Hause. Man muss sich das einmal vorstellen, in so einer Situation leben zu müssen. Die Volkshilfe berichtet uns, dass sich bei ihnen die Anträge um Unter­stützung für medizinische Angelegenheiten mittlerweile verdreifacht haben. Es ist eigent­lich beschämend, dass es eine nicht staatliche Organisation braucht, die solche Dinge abfängt, denn es fehlen uns, wir haben es heute schon mehrfach gehört, die Kassen­plätze in diesem Bereich, die Kassenplätze für Psychiatrie, für Psychotherapie. Es braucht nachhaltig mehr Ausbildungsplätze für Fachärzte und Fachärztinnen. Da brennt der Hut, Herr Bundeskanzler, und da hört man nichts von irgendwelchen nachhaltigen Maßnahmen oder Plänen.

Es muss doch für Sie als Verantwortungsträger, für Sie als Kanzler, gemeinsam mit dem Gesundheitsminister, möglich sein, einen Kinder- und Jugendgipfel einzuberufen, mit den FachexpertInnen zu schauen, wie man jetzt schnellstmöglich akute Entlastung bringen und nachhaltig die medizinische und psychiatrische Versorgung sicherstellen kann! (Beifall bei der SPÖ.) Das würden wir SozialdemokratInnen machen: sich mit denen, die die Lösungen kennen, an einen Tisch setzen und die Dinge umsetzen. Da müsste man halt kooperieren, man müsste auf Augenhöhe arbeiten, und das ist ehrlich gesagt meiner Meinung nach nicht Ihre Stärke, Herr Bundeskanzler.

Apropos psychische Belastung: Aus der psychischen Belastung, auch das wissen wir, kann Gewalt entstehen  und sie entsteht, wir wissen es. Ich habe gestern, als ich meine Rede geschrieben habe, noch von neun Frauenmorden, von neun Femiziden, ge­sprochen oder sie niedergeschrieben, heute muss ich das auf mittlerweile elf Frauenmorde in diesem Jahr und wir haben erst Mai! korrigieren. Das heißt, alle zwei Wochen wird in Österreich eine Frau ermordet. Ich meine, da muss jetzt doch endlich etwas passieren, um diese Gewaltexzesse zu verhindern! Es kann doch nicht sein, dass die Vorschläge zum Schutz von Frauen am Tisch liegen und sie nicht umgesetzt werden!

Hand aufs Herz, seit Monaten gibt es die Warnungen aus den Facheinrichtungen. Seit Monaten verschließen Sie die Augen vor der Realität, um jetzt, beim elften Mord zöger­lich zu sagen: Okay, es wird Geld geben, okay, wir werden uns Maßnahmen über­legen. Ehrlich, ist das die Antwort? Die Lösungen müssen heute her, es kann nicht riskiert werden, dass es noch weitere Frauenmorde gibt. (Beifall bei der SPÖ.)

Was so oft vergessen wird und worauf ich hinweisen möchte: Bei vielen dieser Frauen­morde sind auch Kinder betroffen. Teilweise sind sie ZeugInnen dieser Taten und meis­tens bleiben sie kleine Mädchen und Buben, die auch unseren Schutz und unsere Aufmerksamkeit brauchen als Teilwaisen oder als Waisen über und müssen ihre Traumata überwinden. Auch dafür braucht es jetzt Ressourcen, um diese Betroffenen gut begleiten zu können.

Zum Thema Frauen generell, Frauen in den Familien: Frauen haben im letzten Jahr eigentlich Unmenschliches geleistet. Sie arbeiten oft in Berufen im Handel, in der Pflege, im Gesundheitswesen, im Bildungsbereich und halten quasi die Gesellschaft am Laufen. Dazu kommt neben dem üblichen Familienleben Kinder begleiten, Haushalt  jetzt noch oft die Rolle als Lehrerin, als Kindergärtnerin, als Pflegerin dazu. Es ist über­menschlich, das alles alleine stemmen zu müssen, als Alleinerzieherin beispielsweise. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, was das körperlich, emotional, psychisch für eine Belastung bedeutet. Und dann muss man oft noch um Sonderbetreuungszeiten oder um den Unterhalt streiten. Warum, Herr Bundeskanzler, macht man diesen Frauen das Leben so schwer? Auch das kann ich nicht verstehen, denn bei all den Ausgaben, die derzeit gemacht werden, würde eine ordentliche Absicherung von zumindest den AlleinerzieherInnen mit ihren Kindern tatsächlich kaum ins Gewicht fallen.

Apropos kaum ins Gewicht fallen, ein kurzer Sidestep: Es würde auch kaum ins Gewicht fallen, wenn wir Familien aus den Elendscamps in Griechenland oder Bosnien bei uns aufnehmen. Es gibt genug Bereitschaft in der Zivilgesellschaft, genug Bereitschaft in den Gemeinden, da einzuspringen. Wenn Sie wahrscheinlich reflexartig sagen, wir müs­sen Hilfe vor Ort leisten: Diese Hilfe kommt nicht an, wir wissen es. Wir wissen, dass von den Sachspenden, die nach Griechenland geschickt wurden – zwölf Zelte , aktuell zwei in Kara Tepe stehen. (Bundesrat Steiner: Deswegen holen wir die ganze Welt nach Österreich, oder?) Zwölf Zelte, das ist keine Hilfe vor Ort, da kann man sich nicht abputzen! (Beifall bei der SPÖ.)

Ein nächstes Thema: Familien kämpfen mit der Ungewissheit. Eltern haben aktuell keine Ahnung, wann Sie wohl geimpft sein werden. Das ist aber entscheidend für alle Per­spektiven und alle künftigen Planungen. Wie wird man den Sommer verbringen können? Wann kann man wieder unbeschwert Familienangehörige, Freunde treffen? Bei der aktuellen Impfsituation, bei der Deckelung beim Kauf von Impfdosen wie um alles in der Welt konnte so etwas von Ihnen entschieden werden, Herr Bundeskanzler? , bei dieser unüberschaubaren Impfstrategie kann das möglicherweise noch Monate dauern.

Da fragen sich aktuell wohl alle Eltern: Wie werden wir den Sommer meistern? Wie geht es in den Schulen bis zum Sommer weiter? Wie werden die Kinder mit ihrer Bildungs­situation, mit den Bildungslücken, mit ihrer Belastung aufgefangen? Schule auf, Schule zu: Wie wird dieses Schuljahr wohl abgeschlossen werden? Welche Lücken in der Bildungslaufbahn tun sich da auf? Schulen berichten von etlichen Schulanmeldungen speziell bei den Jugendlichen, weil sie diesem Druck, dieser knallharten Selbstverant­wortung zu Hause nicht mehr standhalten können.

Eine breite Plattform an Kinder- und Jugendorganisationen, weit über die Bundesjugend­vertretung hinaus, fordert nun in einer gemeinsamen Kampagne einen sorgenfreien Sommer für alle Kinder. Diesen hätten sich die Kinder und genauso die Eltern wirklich verdient. Dafür bräuchte es aber jetzt Regelungen für Sommerangebote und Sommer­camps, dafür bräuchte es jetzt flächendeckend kostenlose oder zumindest kosten­günstige Angebote, wie beispielsweise die Wiener Summer City Camps. Dafür braucht es jetzt eine Perspektive. Die Lösungen liegen auch da bereits auf dem Tisch. Herr Bundeskanzler, Sie müssen sie nur aufgreifen, mit den Fachleuten reden und das eine oder andere umsetzen! Auch im Bereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit stehen alle mit Sicherheitskonzepten in den Startlöchern. Auch da verlangen wir einheitliche Regelungen, damit in diesem Bereich endlich wieder österreichweit durchgestartet werden kann.

Jedenfalls haben wir in unserer Dringlichen Anfrage für Sie alle versucht, zu be­schreiben, wie es Familien derzeit geht. Wie gesagt, das alles ist nicht von uns erfunden, Sie können es nachlesen, alles ist durch Studien belegt. Nein, wir haben nicht nur auf­gezeigt, wo der Schuh drückt und wo die Problemlagen sind, sondern wir haben in dieser Dringlichen Anfrage wirklich, wirklich viele Vorschläge und Konzepte verpackt, wie man Familien, wenn man es nur wirklich will, das Leben leichter machen könnte. Wir fragen Sie, Herr Bundeskanzler: Was Sind denn Ihre Konzepte, abseits der vielen Presse­konferenzen und Ankündigungen?

Man muss etwas wollen, um es zu tun, das ist der entscheidende Punkt. Man muss wollen, dass es allen Familien, und nicht nur ein paar wenigen privilegierten, gut geht. (Beifall bei der SPÖ.) Da geht es am Ende des Tages auch um eine gerechte Verteilung der vorhandenen Ressourcen, mit nachhaltigen, langfristigen Maßnahmen, die auch Mut und ehrlichen Respekt vor den Familien erfordern.

Wir haben in unserer Anfrage 38 Fragen an Sie gestellt, Herr Bundeskanzler, und wir erwarten uns klare Antworten auf unsere Fragen, nicht nur für uns, sondern natürlich auch für die Familien in diesem Land. (Bundesrat Bader spricht mit Bundeskanzler Kurz. – Zwischenruf des Bundesrates Schennach.) – Herr Bundeskanzler, zum Thema Respekt, auch vor Mitgliedern des Bundesrates (Beifall des Bundesrates Steiner – Zwi­schenruf der Bundesrätin Grimling): Sie fordern ständig Respekt ein, bei Ihnen aber, Herr Bundeskanzler, vermissen wir diesen schmerzlich. (Beifall bei SPÖ und FPÖ.)

Übernehmen Sie bitte endlich Verantwortung für die Eltern, für die Jugendlichen, für die Kinder in diesem Land! Geben Sie uns Antworten auf unsere 38 Fragen und werden Sie bitte endlich aktiv! Es ist höchste Zeit. (Beifall bei der SPÖ. – Bundesrat Bader: Zur Geschäftsordnung!)

16.21

Vizepräsidentin Doris Hahn, MEd MA: Zur Geschäftsbehandlung, Herr Fraktions­vor­sitzender. – Bitte.

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