12.31

Bundesrat Stefan Schennach (SPÖ, Wien): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Bun­desministerin! Sehr geehrter Johannes Rauch! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Wir alle sind Zeitzeugen: Wir alle erleben gerade, wie eine Friedens­ordnung in Europa, auf die wir uns in den letzten Jahrzehnten so verlassen haben, völlig auf den Kopf gestellt wird.

Wir stehen jetzt vor der Tür, durch die wir eigentlich nicht mehr gehen wollten, wir stehen vor der Aufrüstung der nationalen Armeen. Das ist eigentlich ein schrecklicher Befund. Die Schlussakte von Helsinki, die zum Beispiel zur OSZE geführt hat, hat klargemacht: Kein Land überfällt ein anderes Land zwecks Gebietserweiterung oder Machtausdeh­nung, das alles gibt es nicht mehr.

Gleichzeitig haben wir das Völkerrecht, wir haben die Menschenrechte, und all das ist durch diesen barbarischen Angriffskrieg auf den Kopf gestellt worden. Es ist ein Krieg, der von beiden Seiten nicht gewonnen werden kann. Er kann nicht von Russland gewon­nen werden, denn – auch wenn es seltsam klingt – sie haben viel zu wenige Soldaten in Marsch gesetzt – um zum Beispiel 1945 Berlin zu erobern, haben sie 1,4 Millionen Sol­daten in Gang gesetzt; jetzt stehen sie mit 200 000 oder weniger Mann in der Ukraine, das ist eine ganz andere Dimension –, gleichzeitig kann die Ukraine die schwächere militärische Ausstattung durch den größeren Willen und das Bewusstsein, wofür man kämpft – nämlich für Frieden, Freiheit und Selbstständigkeit –, wettmachen, was aber einen ungleich höheren Blutzoll fordert.

Betrachten wir die Anzahl der Toten auf beiden Seiten: Es sind ungefähr 14 000 Leichen­säcke bereits zurück in Russland (Bundesrat Himmer: Wirklich?), und das allein ist eine schreckliche Zahl, zumal es vor allem junge Soldaten waren, die gar nicht wussten, wo sie eingesetzt werden, wohin sie geschickt werden. Die meisten glaubten, sie wären zu irgendeinem Manöver unterwegs. Das ist die Tragödie. Und jetzt das Beschießen der Städte, der Zivilisten: Das passiert, weil die russischen Truppen nicht die entsprechende Stärke haben, sodass sie aus immer größerer Distanz schießen. Und je größer die Dis­tanz beim Beschuss einer Stadt, desto weniger Zielgenauigkeit ist möglich, sodass im­mer mehr Zivilisten betroffen sind.

Gut war die Schnelligkeit und die Geschlossenheit der Europäischen Union. Das war erstaunlich, wenn wir daran denken, wie lang die Europäische Union oft für Entscheidun­gen braucht.

Natürlich geht es jetzt nicht darum, aufzurechnen. Von wem wurde das Minsker Abkom­men ernst genommen? – Von beiden Seiten kaum, weder von der ukrainischen Seite – die hat gleich den zweiten Punkt des Minsker Abkommens völlig gestrichen – noch von der russischer Seite. Das nützt uns jetzt aber nichts! Wir haben einen barbarischen Krieg, der so nicht enden wird. Er wird irgendwann zu einem Guerillakrieg, zu einem Zermürbungskrieg werden und dann noch zehn Jahre lang Blutzoll fordern, und das meistens von Menschen, die eigentlich - -

Ich kann nur sagen, ich habe in den letzten Wochen viel damit zu tun gehabt. Ich kenne viele Menschen sowohl aus Russland als auch aus der Ukraine, ich habe ja noch ganz viele Verbindungen über den Europarat. Ich telefoniere jeden Tag mit Charkiw oder mit Mariupol. Auch dort sind überall Abgeordnete, mit denen wir in einem engen Kontakt sind, und es macht einen einfach betroffen, wie die Situation ist.

Was wir jetzt tun müssen, ist, alle diplomatischen Kanäle offen zu lassen. Lieber Kollege Buchmann, ich finde es zum Beispiel gar nicht gut, jetzt Städtepartnerschaften zu be­enden. Das sind nämlich genau die Möglichkeiten, auch andere Informationen in ein Land zu bringen, wo es keine Informationen gibt.

Nehmen wir zum Beispiel den Fall der Marina Dawydowa: Marina Dawydowa war vor vier Jahren Schauspielleiterin der Wiener Festwochen. Sie hat in Russland einen Aufruf erlassen, der zu einem weißen Z – das bedeutet Verräterin – an Ihrer Haustür geführt hat. Sie ist vogelfrei, und die Finnen haben nichts anderes zu tun, als sie als künstleri­sche Leiterin auszuladen. Das ist unerhört!

Der größte Respekt – bis Nowosibirsk – gilt all jenen Menschen, die jetzt auf die Straße gehen und protestieren, wohl wissend, dass sie für zwölf oder 15 Jahre in Haft müssen. Da müssen wir sagen: Unsere Kritik und all unsere Maßnahmen müssen das Regime und die Clique um Putin treffen, aber sie richten sich doch nicht gegen die Russen! (Beifall bei der SPÖ.)

Gestern nach dem EU-Ausschuss gehe ich über den Hof, und beim Schweizertor treffe ich eine russische Dirigentin mit Tränen in den Augen. Sie versteht die Welt nicht mehr. Ich bedaure sehr, dass sie zum Beispiel in Niederösterreich ihre Position verloren hat, weil sie Russin ist, obwohl sie gegen diesen Krieg und gegen dieses Regime ist, und hier nichts anderes tut, als zu dirigieren und Kindern Musik näherzubringen. Das geht nicht! Wir müssen uns solcher Personen in einer besonderen Weise annehmen.

Ich bin aber auch gegen falsche Symbolpolitik. Ich habe bei der Cosac – das ist die Konferenz der europäischen EU-Ausschüsse gemeinsam mit dem Europäischen Parla­ment – in den letzten drei Tagen in Paris miterleben müssen, dass dieser versprochene Fast Track der Ursula Von der Leyen völlig falsch aufgefasst wird. Da sagt der West­balkan: Wir warten seit über zehn Jahren, und Macron knallt uns die Türen zu! Nord­mazedonien und Albanien sagen: Wir sind so weit und man hat es uns versprochen! – Gerade Nordmazedonien hat man es im Zusammenhang mit der Volksabstimmung über die Namensänderung versprochen. Jetzt steht ein Land nach dem anderen auf – Geor­gien, Moldawien – und sagt: Wir alle fordern jetzt Fast Track!

Das bringt uns um! – Entschuldigung, wir sind die Europäische Union! Wir bemühen uns um Frieden, wir versuchen, solidarisch zu helfen – man denke nur daran, wie viel die Europäische Union an die Ukraine bezahlt hat und noch immer bezahlt und wie sie sie damit stützt –, aber wir können nicht plötzlich anfangen zu schwimmen, indem wir Sym­bolpolitik machen. Der Ukraine nützt es nämlich genau null, wenn man jetzt sagt: Ihr werdet EU-Mitglied! Was hat das für eine Auswirkung? – Gar keine, null.

Wenn man dann noch sagt, wir nehmen Georgien und das mit Transnistrien ganz schwer belastete Moldawien dazu, dann sind wir in jedem Konflikt drin. Die Nato war einmal sehr weise, als sie gesagt hat: Die Ukraine und Georgien können nicht Mitglied werden, sonst stecken wir mitten in einem Konflikt!

Wir haben ein paar Probleme. Es wird sich zum Beispiel in Österreich, Deutschland und so weiter im Hinblick auf die Energieversorgung irgendwann die Frage stellen: Drehen wir den Hahn zu oder nicht? Damit, muss ich ganz ehrlich sagen, riskieren wir etwas. Wir kämpfen um den Frieden in der Ukraine, aber verlieren den sozialen Frieden in unse­ren Ländern, nämlich dann, wenn die Gesellschaft in eine soziale Schieflage kommt, wenn die Arbeitslosigkeit steigt, wenn die Firmen zusperren müssen. Da müssen wir vorsichtig sein.

Ja, derzeit bezahlt Europa jeden Tag 1 Milliarde Euro an Russland. Das ist ein Bomben­geschäft, ja. Wir können aber nicht einfach sagen, wir sperren die Leitung zu, denn wir haben auch eine Verantwortung für den sozialen Frieden hier, wir haben die Pflicht, ge­gen die Teuerung, gegen diese Teuerungslawine anzukämpfen. Auch haben wir die Ver­antwortung, behutsam mit der Psyche unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen umzuge­hen, die von zwei Jahren Pandemie völlig ermattet sind – und jetzt diese Angst.

Ich finde es ja rührend, wenn Landeshauptmann Platter, der einmal Verteidigungsminis­ter war, in Tirol großartig verkündet: Tirol ist derzeit sicherheitsmäßig nicht bedroht! – So ein Quatsch, und das von einem Ex-Verteidigungsminister! (Bundesrat Steiner – erhei­tert –: Ja, ein Wahnsinn! Der war eine Katastrophe als Verteidigungsminister! – Zwi­schenrufe bei der SPÖ.) – Bitte? Was sagst du? (Ruf bei der SPÖ: ... Innenminister!) – Nein, Verteidigungsminister war er auch. Der Bundesrat hatte sogar einen kleinen Unter­suchungsausschuss wegen der Abfangjäger mit Herrn Platter. Darum kennt er sich bei uns im Bundesrat sehr gut aus, weil er permanent in den Verteidigungsausschuss des Bundesrates musste.

Frau Bundesministerin, Sie wissen ja, dass ich Sie schätze, weil wir ein ähnliches Betä­tigungsfeld in Straßburg haben, aber eines muss ich schon sagen: Welcher Blödsinn hat die ÖVP geritten, dass heute jeder einzelne Minister und jede Ministerin hier herausge­hen muss und ein Mantra aufsagen muss: Die Neutralität steht nicht infrage! – Wir haben sie nicht infrage gestellt. Das ist von euch selber gekommen. Und wenn Frau Ministerin Raab, dann Frau Ministerin Edtstadler und dann alle anderen ÖVP-Minister sagen, dass die Neutralität nicht infrage steht, dann wissen wir, dass sie infrage gestanden ist. (Beifall bei BundesrätInnen der FPÖ. – Zwischenrufe bei BundesrätInnen von SPÖ und FPÖ.)

Deshalb noch einmal: Die Neutralität Österreichs ist der österreichische, unverwechsel­bare „Beitrag zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa“. Wo steht dieser Satz? – Der steht im Beitrittsansuchen Österreichs an die Europäische Gemein­schaft, das heißt, er ist von der Europäischen Union anerkannt.

Wir brauchen auch nicht darüber zu diskutieren, ob wir – Entschuldigung, Herr Arla­movsky, er ist ja jetzt nicht da – einer europäischen Armee beitreten. Wir haben unsere Aufgabe als neutrales Land zu erfüllen. Neutralität heißt aber nicht meinungslos zu sein, Neutralität heißt nicht positionslos zu sein! Beim Thema Menschenrechte und beim Thema Völkerrecht haben wir klar Flagge zu zeigen!

Vizepräsidentin Sonja Zwazl: Bitte an die Zeit denken!

Bundesrat Stefan Schennach (fortsetzend): Ich denke eh an die Zeit, aber man muss doch unserem neuen Minister auch noch ein paar Minuten geben, oder? Ich meine, das wäre ja sehr unhöflich, Frau Präsidentin. Das wäre unhöflich, und Sie wissen, dass ich nicht unhöflich bin.

Vizepräsidentin Sonja Zwazl: ... mehr Sensibilität bei der Wortwahl! (Bundesrat Stei­ner: Mikro! Das kriegt ja niemand mit!)

Bundesrat Stefan Schennach (fortsetzend): Ich bin ziemlich sensibel, ich bin schwer sensibel. Nein, nein. Ich darf noch ganz kurz Folgendes sagen: Viel Glück für diese Auf­gabe! Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet die zwei wichtigen Führungsfunktionen in Zeiten einer Pandemie, jene des Gesundheitsministers und jene des Bundeskanzlers, zu einer Art Schleudersessel werden. Ich hoffe, dass Sie bis zum Ende der Legislatur­periode Gesundheitsminister sind, weil wir nach wie vor inmitten einer Pandemie ste­cken.

Dieser Bericht der Kommission ist widersprüchlich und doppeldeutig, würde ich sagen, denn wenn man sagt: Im Herbst kommt’s dicke!, dann muss ich einmal ein paar Monate nach vorne rechnen, um mittels Impfungen die entsprechende Sicherheit im Herbst zu erreichen. Das heißt, so viel Spielraum haben wir nicht. Da stellt sich die Frage: Wie erreiche ich die Leute im Mai und im Juni, wie bringe ich sie dazu, sich impfen zu lassen, wenn ich sie bisher nicht erreicht habe?

Trotzdem alles Gute! Ich glaube, Frau Schumann hat das für unsere Seite schon gesagt. Und vergessen Sie nicht, dass Sie nicht nur Gesundheitsminister sind, sondern dass das große Feld des Sozialen und der Pflege ziemlich brach liegt. Da muss etwas kommen! – In diesem Sinne: Danke schön. (Beifall bei der SPÖ sowie der Bundesrätin Platzer.)

12.46

Vizepräsidentin Sonja Zwazl: Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich darf Sie auf­merksam machen: Wir haben an und für sich beschlossen, dass unsere Redezeit ma­ximal 10 Minuten betragen soll. Ich weiß, es ist heute von Anfang an überzogen worden, aber ich bitte Sie wirklich, sich daran zu halten. Wir haben noch eine sehr volle und ausgiebige Tagesordnung.

Ich bitte auch, ein bisschen sensibler bei der Wortwahl zu sein. Ich denke, das Wort Blödsinn ist hier nicht angebracht.

Als Nächster zu Wort gemeldet ist unser Kollege Bundesrat Christoph Steiner. – Bitte schön.