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Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt Mag. Karoline Edtstadler: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Bundesrätinnen und Bundesräte! Geschätzte Abgeordnete zum Europäischen Parlament! Liebe Zuse­herinnen und Zuseher! Hohes Haus! Schön, dass Sie sich heute anlässlich dieser letzten Sitzung im Jahr 2022 mit Europa beschäftigen. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich für die Einladung zu dieser historischen Sitzung bedanken, nämlich der letzten in diesem Ausweichquartier.

Erlauben Sie mir zu Beginn auch eine Anmerkung. Bundesrat Steiner ist jetzt nicht anwesend, aber ich habe sehr wohl verstanden, was die Frau Bun­desratspräsidentin mir nahegelegt hat, dass sie mich gebeten hat, mich an die Redezeiten zu halten. Ich werde das tunlichst einhalten, auch ich möchte, dass alle zu Wort kommen. Ich möchte aber schon auch darauf verweisen, dass es sehr vieles gibt, worüber man sprechen muss, wenn wir heute über Euro­pa sprechen. Vielleicht werde ich mich ja dann am Schluss nicht zu Wort melden, je nachdem, wie die Diskussion verläuft.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, wir sind uns alle darüber einig, dass sich ein turbulentes Jahr dem Ende zuneigt. Es ist schon ange­sprochen worden: Wir haben die Pandemie noch immer nicht ganz überwunden, seit dem 24. Februar tobt ein schrecklicher Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, und wir in Österreich, in Europa, ich möchte sagen, in weiten Teilen der Welt haben mit den Folgen zu kämpfen. Denken Sie an Inflation, an Teue­rung, an die Notwendigkeit der Diversifizierung von Energiequellen, der Sicher­stellung von Energie in diesem Land und in Europa, auch in dem Bewusst­sein, dass die Ukraine eine der größten Kornkammern nicht nur Europas ist, son­dern das auch eine große Auswirkung auf viele Länder Nordafrikas hat und somit auch die Nahrungsmittelsicherheit at stake ist, wenn ich das auf Englisch ausdrücken darf!

Die Wandlungen im Bereich Digitalisierung, aber auch im Zugang, was den Schutz unseres Klimas betrifft, sind von eklatanter Bedeutung. Und ja, auch das ist schon angesprochen worden: Es ist ein großes Budget von 750 Milliarden Euro post Covid diesen Themen gewidmet, und ich möchte auch festhalten, dass es der Initiative Österreichs geschuldet ist, dass wahre Milestones erreicht werden müssen, von allen Staaten der Europäischen Union, wenn sie diese Gel­der abholen. (Beifall bei der ÖVP.)

Und ja, da ist dann auch noch ein Thema, das uns alle beschäftigt, und dieses Thema heißt Migration. Österreich hat es geschafft, insbesondere in der letzten Woche, das Thema ganz oben auf die Agenda der Europäischen Union zu bekommen. Warum? – Weil wir enorm betroffen sind. Ich weiß, dass einige von Ihnen das wahrscheinlich noch ansprechen werden. Es wird immer gesagt: Na ja, das hat damit zu tun, dass wir hier in Österreich von irgendetwas ablenken oder abzulenken versuchen wollen, auch als ÖVP. – Ich möchte Ihnen sagen, dass das nicht der Fall ist, denn ich brauche weder eine Landtagswahl in Nieder­österreich noch irgendwelche Umfragewerte, um zu erkennen, dass bei ei­ner Anzahl von 100 000 Asylwerberinnen und Asylwerbern in Österreich, von de­nen 75 Prozent zum ersten Mal hier registriert werden, dieses Thema jetzt auf der Agenda der Europäischen Union stehen muss. (Beifall bei der ÖVP.)

Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist eine Frage der Sicherheit, nicht nur für Österreich, sondern für alle Unionsbürgerinnen und -bürger. Wir müs­sen uns eingestehen, dass es kein europäisches Asylsystem gibt, das funktioniert. Wir haben es seit 2015 nicht geschafft, eines zu etablieren. Dublin III ist totes Recht, es wird von vielen nicht angewandt, und jetzt haben wir die Situa­tion, dass wir auch einen Schengenraum haben, den wir – zu einem Zeit­punkt, zu dem die Sicherheit der Europäerinnen und Europäer nicht gewährleis­tet ist – nicht erweitern können.

Ich habe eine Vision, und diese Vision heißt: ein Europa ohne Grenzen nach in­nen. Die Bedingung dafür ist aber, dass der Außengrenzschutz funktioniert, denn: Was ist denn die Aufgabe eines souveränen Staates? – Die Aufga­be ist, die Hoheitsmacht über sein Hoheitsgebiet zu haben, zu wissen, wer ein und aus geht. Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft von souverä­nen Staaten, und daher ist jede Außengrenze der Europäischen Union auch unsere Grenze, und wir müssen uns solidarisch zeigen und denen, die es brauchen, auch Unterstützung geben.

Der freie Waren- und Personenverkehr ist wohl eine der größten Errungen­schaften, die wir in der Europäischen Union haben, und jeder soll diese Errungenschaft auch leben können, aber vorher, bevor wir ein System erweitern, braucht es den Außengrenzschutz.

Ich möchte das in aller Deutlichkeit auch hier sagen: Das Nein zur Erweiterung jetzt um Rumänien und Bulgarien, was Schengen betrifft, ist nicht gegen die­se beiden Staaten gerichtet, sondern gegen ein nicht funktionierendes System. Wir müssen dieses zuerst reparieren, bevor wir es ausweiten. (Beifall bei der ÖVP.)

Erlauben Sie mir auch ein paar Sätze zu den Zahlen, die hier auch immer wieder im Gespräch sind. Was wir sicher wissen, ist die Zahl der Aufgriffe in Öster­reich, und was wir auch wissen, ist, dass das System lückenhaft ist, denn anders könnte es nicht erklärbar sein, dass wir auch durch intensive Arbeiten im Innenministerium – durch Handyauswertungen, durch Befragung von Migrantin­nen und Migranten, aber auch von Schleppern, die gefasst werden – wissen, dass es hier natürlich eine hohe Dunkelziffer gibt.

Wenn immer wieder nach konkreten Zahlen gefragt wird, dann muss man natürlich sagen: Was ist einer Dunkelziffer immanent? – Sie liegt im Dunkeln und sie ist schwer bezifferbar. Daher müssen wir uns auf jene Zahlen konzentrie­ren, die wir haben, und die sind Grund genug, das Thema auch auf europäischer Ebene auf die Tagesordnung zu bringen. Und das – das möchte ich noch ein­mal festhalten –ist gelungen: Es wird Anfang Februar bereits einen Sonderrat der Staats- und Regierungschefs geben. Es sind von den fünf Forderungen Ös­terreichs, die schon angesprochen worden sind, bereits zwei in Aktionspläne der Europäischen Kommission aufgenommen worden. Es geht darum, dass wir ein ganzes Bündel an Maßnahmen brauchen, und ja, es geht auch darum, dass eine Maßnahme in diesem Bündel physische Barrieren sein müssen, wobei wir den Ländern an der Außengrenze Unterstützung in finanzieller Hinsicht, aber auch personell bei der Überwachung der dort schon bestehenden Zäune – und das möchte ich auch sagen – gewährleisten müssen, um uns, die Bürger:innen Europas und auch Österreichs, zu schützen und zu unterstützen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, warum habe ich die Hoffnung, dass es jetzt gelingen kann, auf europäischer Ebene auch tatsächlich Lösungen zu etablieren? – Erstens, weil der Leidensdruck bei vielen entsprechend groß ist, zweitens, weil auch der Wunsch, Schengen zu erweitern, da ist und nach­vollziehbar ist, drittens, weil wir jetzt mit Schweden auch eine Ratspräsident­schaft vor uns haben, einem Land, das leidgeprüft, aber auch sehr erfah­ren ist, was die Thematik der Migration betrifft, und zum Vierten, weil endlich Ehrlichkeit in die Debatte kommt, weil wir uns nicht wegducken können, indem wir proeuropäisch betonen und uns überbieten mit Aussagen, wie gut wir darin sind, sondern die Fakten sehen müssen und entsprechend darauf reagieren. Deshalb glaube ich, dass jetzt der Zeitpunkt ein günstiger ist, um da tatsächlich Lösungen auf den Weg zu bringen. (Beifall bei der ÖVP.)

Wir müssen den Schleppern die Geschäftsgrundlage entziehen und denen helfen, die tatsächlich ein Recht auf Asyl haben, und nicht denen, die stark genug sind, finanzstark genug sind oder auch in ihrer Heimat alles verkauft haben und sich dann lange genug hier halten können, sodass sie im Endeffekt irgend­wann hier geduldet werden.

Wenn wir hier Gerechtigkeit walten lassen wollen, dann brauchen wir zwei Dinge: Ordnung an der Grenze, damit wir hier auch Humanität gewähr­leisten können und damit auch so etwas wie die Europäische Men­schenrechtskonvention hier eingehalten werden kann.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gäbe noch sehr viele andere The­men zu besprechen, die in Europa im Moment ganz weit oben auf der Agenda stehen müssen. Ich möchte aber damit schließen, dass auch aus meiner Sicht Europa das größte Friedensprojekt aller Zeiten ist, und spätestens seit dem 24. Februar ist das kein Dogma mehr, das irgendwo in den Geschichts­büchern vorkommt und mit dem die Jugend ohnehin und auch wir nichts anfangen können, weil wir Gott sei Dank nie Krieg erlebt haben, sondern es ist zur Realität geworden.

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle gesegnete Weihnachten wünschen und auch die Möglichkeit, sich im Kreise Ihrer Lieben energetisch aufzuladen. Ich möchte diese Gelegenheit aber auch zum Anlass nehmen, Sie zu bitten, bei aller Notwendigkeit der demokratischen Diskussion, der Auseinandersetzung und manchmal offenbar auch der unvermeidlichen parteipolitischen Unter- und Angriffe darüber nachzudenken, dass nichts von Wert ist ohne Frieden.

In diesem Sinne: Schöne Weihnachten, und gestalten wir Europa so, dass es eine bessere Zukunft für uns alle und für die nachfolgenden Generationen in sich birgt! – Vielen Dank. (Beifall bei der ÖVP.)

10.05

Präsidentin Korinna Schumann: Danke, Frau Bundesministerin.

Als erstes Mitglied des Europäischen Parlaments zu Wort gemeldet ist Christian Sagartz. – Bitte.