2612/J XX.GP
ANFRAGE
der Abgeordneten Öllinger, Freundinnen und Freunde
an den Bundesminister für Justiz
betreffend NS-Euthanasie und Involvierung von Dr. Heinrich Gross
Auch und gerade nach der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage betreffend
Kindereuthanasie - Involvierung von Dr. Heinrich Gross (2148/ AB vom 15.5. 1997) sind
noch etliche Fragen offen bzw. durch die Beantwortung entstanden.
Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende
ANFRAGE:
1 . In der Anfragebeantwortung heißt es unter Ziffer 4, daß das Vorhaben der
Staatsanwaltschaft, die Anzeige des Dokumentationsarchivs vom 10.3. 1997 gemäß § 90
Abs. 1 StPO zurückzulegen, nicht zur Kenntnis genommen, sondern "zwecks Schaffung
einer umfassenden Beurteilungsgrundlage um die Vornahme weiterer Erhebungen (vor
allem die Beischaffung und Auswertung weiterer Unterlagen und Akten) ersucht" wird.
a) Werden im Rahmen dieser Ermittlungen erstmalig auch Gutachten von
Sachverständigen (Historiker, Mediziner) beigezogen werden?
Wenn nein, warum nicht?
b) Wird die Staatsanwaltschaft Wien, die bisher nie einen Grund zur Strafverfolgung
gesehen hat, diese Ermittlungen leiten?
Wenn ja, warum?
c) Staatsanwalt Dr. Karesch, der den Fall Gross bearbeitet, ist auch für die Ermittlungen
bei den Kurdenmorden zuständig. Entspricht es Ihrer Ansicht nach dem gebotenen
Interesse an rascher und umfassender Aufklärung, wenn angesichts der langen
Säumigkeit der Justiz im Fall Dr. Gross und Kurdenmorde ein Staatsanwalt zwei so
brisante und umfangreiche Fälle bearbeiten soll?
2. Dr. Gross ist über Jahrzehnte hinweg als gerichtlich beeideter Sachverständiger tätig
gewesen und hat sogar im hohen Alter von 80 Jahren in über 300 Fällen in den Jahren.
1995 und 1996 als Sachverständiger gewirkt.
In der Ausgabe 23/97 der Zeitschrift "NEWS" wird eine Aussage von Friedrich Zawrel
wiedergegeben. Herr Zawrel war offensichtlich während der NS - Zeit in der Klinik
"Am Spiegelgrund" behandelt worden
und hatte dort Dr. Gross kennengelernt. Als
Zawrel 1975 wegen kleinkrimineller Delikte vor Gericht stand, traf er dort Dr. Gross
wieder, der als Gutachter fungierte:
"Zawrel erkannte den Arzt aus der Todesklinik wieder. Darauf angesprochen, meinte der
Arzt laut Zawrel: "Schauen S" tua ma net in diesen alten Geschichten herumdoktern,
das liegt fast vierzig Jahre z'rück. Wenn S' über diese Zeit ruhig san, kann ich Ihnen
versprechen, daß ich mich für Sie bei Gericht einsetzen wird, und Ihnen helf'."
a) Seit wann und in wievielen Fällen war Dr. Gross als gerichtlich beeideter
Sachverständiger tätig?
b) Wie hoch ist die von ihm bezogene Honorarsumme während seiner Tätigkeit für die
Justizbehörden?
c) War Dr. Gross auch zwischen 26.6.95 und 29. 1 1.95, also jenem Zeitraum, in dem
die Staatsanwaltschaft laut Anfragebeantwortung "weiterführende Erhebungen" erwog,
als Gutachter tätig?
d) In wievielen Fällen war Dr. Gross innerhalb dieses Zeitraums als Gutachter tätig?
e) Entspricht es unserer Rechtsordnung, daß ein Sachverständiger, gegen den
strafrechtlich ermittelt wird, gleichzeitig von den Justizbehörden als Gutachter eingesetzt
wird?
f) Zumindest im Falle des Herrn Zawrel liegt der Verdacht nahe, daß das Gutachten
durch das Wissen des Friedrich Zawrel um die Euthanasie -Tätigkeit von Dr. Gross
beeinflußt wurde. Welche Konsequenzen hatte das Gutachten von Dr. Gross auf das
Urteil gegen Friedrich Zawrel?
g) Wurde die Berichterstattung in NEWS 23/97 zum Anlaß genommen, gegen Dr. Gross
im Hinblick auf § 288 (1) StGB (Erstattung eines falschen Gutachtens als
Sachverständiger) zu ermitteln?
Wenn ja, mit welchem Ergebnis?
Wenn nein, warum nicht?
h) Sind Ihnen bzw. den Justizbehörden weitere Fälle bekannt, in denen die
Gutachtertätigkeit des Dr. Gross durch seine eigene Vergangenheit als Euthanasie - Arzt
beeinflußt worden ist?
i) Wurde Dr. Gross auch in Strafverfahren, in denen Verbrechen aus der NS - Zeit oder
Delikte nach dem NS- Wiederbetätigungsgesetz abgehandelt wurden, als Gutachter
herangezogen bzw. werden Sie eine entsprechende Prüfung veranlassen?
j) Ist Dr. Gross auch im Jahr 1997 als Gutachter für die Justizbehörden tätig geworden?
Wenn ja, in wievielen Fällen?
3. In Ziffer 3 der Anfragebeantwortung wird von Ihnen die Ansicht der Staatsanwaltschaft
wiedergegeben, daß eine Wiederaufnahme des Verfahrens 1995 auch deswegen nicht
gerechtfertigt sei, weil "auch weitere Erhebungen nicht geeignet (wären), die frühere
leugnende Verantwortung des Beschuldigten zu widerlegen" . Diese Argumentation ist
nach Auffassung der FragestellerInnen schon deshalb falsch, weil das Oberlandesgericht
als Berufungsinstanz in der Strafsache Dr. Vogt in einem eigenständigen
Beweisverfahren zu einer gegenteiligen Auffassung gekommen ist und dem Dr. Gross
auch in mehreren Punkten nachweisen konnte, daß er die Unwahrheit gesagt hatte.
Darüber hinaus wäre es wohl eine Kapitulation der Justiz, wenn sie angesichts
leugnender Beschuldigter von weiteren Erhebungen Abstand nimmt.
a) Hat die Staatsanwaltschaft Wien bei ihren Erhebungen 1995 die Beweiswürdigung des
Oberlandesgerichts Wien in der Strafsache Dr. Gross gegen Dr. Vogt einbezogen?
b) Wenn ja, wie erklärt sich dann die Zurücklegung der Strafanzeige gegen Dr. Gross?
Wenn nein, warum nicht?
c) Wie ist der Satz von der "früher leugnenden Verantwortung" des Dr. Gross zu
verstehen?
4. Die Staatsanwaltschaft Wien hat sich 47 Jahre lang in ihrer Argumentation, daß keine
strafrechtlichen Verfolgungsgründe gegenüber Dr. Gross gegeben seien, auf das Urteil
des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Volksgericht vom 29.3. 1950 gestützt, mit
dem Dr. Gross wegen des Verbrechens der Mitschuld am Totschlag nach § 5 StG und §
212 RStG zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war. Dieses Urteil wurde vom Obersten
Gerichtshof aufgehoben und zur Neuverhandlung an die Erstinstanz zurückverwiesen.
Die Staatsanwaltschaft Wien trat daraufhin am 25.5.1951 von der Anklage gegen Dr.
Gross wegen des Verbrechens des Totschlags als Mord Mitschuldiger zurück und
begründete dies im Tagebuch 15 St 12091/51 damit, daß eine neuerliche
Hauptverhandlung" unweigerlich zu einem Freispruch des Dr. Gross führen" würde.
Im deutlichen Unterschied dazu stellte das Oberlandesgericht Wien als Berufungsinstanz
in der Strafsache Dr. Gross gegen Dr. Vogt fest, daß das Urteil des Volksgerichtes vom
29.3. 1950 "an inneren Widersprüchen und Feststellungsmängeln" gelitten hatte, das
Oberlandesgericht allerdings "zu einer anderen Urteilsgrundlage" kam, weil Dr. Gross
seine leugnende Verantwortung aufgab bzw. ihm mehrere Unwahrheiten nachgewiesen
werden konnten.
Es erscheint auch merkwürdig, daß die Anzeigen bzw. Sachverhaltsdarstellungen gegen
Dr. Gross von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf ein aufgehobenes Urteil des
Volksgerichtes Wien und mit der Begründung, bei dem Dr. Gross zur Last gelegten
Straftatbestand handle es sich um (verjährten) Totschlag und nicht um Mord,
zurückgelegt worden sind.
In der Anfragebeantwortung (2148/ AB) vertreten Sie die Auffassung, "eine allenfalls
erweisbare Mitwirkung von Dr. Gross an Euthanasiehandlungen im Jahr 1944 sei
rechtlich ebenfalls nach § 212 RStGB zu beurteilen und damit verjährt".
Diese Ansicht kontrastiert mit der Anklage bzw. dem Urteil gegen Dr. Illing, den Primar
und Leiter der Klinik "Am Spiegelgrund", der in einem Verfahren vor dem Volksgericht
Wien 1946 wegen des Verbrechens des vollbrachten Meuchelmordes nach §§ 134, 135
Z. 1 StG angeklagt und schließlich zum Tode verurteilt worden ist.
a) Warum wurde Dr. Illing 1946 wegen des Verbrechens des vollbrachten
Meuchelmordes nach dem alten österreichischen Strafgesetz angeklagt und verurteilt, Dr.
Gross im Jahre 1950 aber nach dem NS - Strafrecht?
b) Der sogenannte " Anschluß " im Jahr 1938 war sowohl völkerrechts- als auch
verfassungswidrig (vgl. dazu etwa Wiederin, März 1938 -staatsrechtlich betrachtet. In:
Nationalsozialismus und Recht, Davy u.a. (Hrsg.)). Die österreichische Rechtsordnung
von vor 1938 galt daher auch in der Okkupation Österreichs fort. Sie war lediglich
vorübergehend nicht effektiv. Die gegenteilige Ansicht würde im übrigen zum
unerträglichen Ergebnis führen, daß verbrecherische Handlungen in der Zeit der
Naziokkupation ausschließlich nach dem damals geltenden Strafrecht zu beurteilen wäre.
Welche Auffassung teilen Sie als Justizminister bzw. die Justizbehörden?
c) Selbst wenn man die unter b) dargelegte Rechtsauffassung nicht teilt, ist das Verhalten
von Dr. Gross nicht am Reichsstrafgesetzbuch, sondern am österreichischen Strafgesetz
zu messen. Die Nationalsozialisten haben nämlich die Geltung des Strafgesetzes in
Österreich nicht beseitigt. Es galten sowohl in Österreich als auch im "Altreich" die
jeweils früheren Gesetze auf dem Gebiet des Strafrechts (vgl. Loebenstein, Strafrecht
und Strafenpraxis im nationalsozialistischen Staat, 201). Teilen Sie bzw. die
Justizbehörden diese Auffassung?
d) Darüber hinaus ist völlig unverständlich, warum von den österreichischen
Justizbehörden das Verhalten von Dr. Gross nach § 212 RStGB und nicht nach § 211
RStGB beurteilt wird. § 211 erfordert neben dem Tötungsvorsatz die Begehung der Tat
aus "niedrigen" Beweggründen. Dr. Gross hat die Ermordung von wehrlosen Kindern
veranlaßt, die ihm als Arzt anvertraut waren, hat offensichtlich ohne äußere
Veranlassung in zumindest einem Fall ein Kind in einem Kinderheim für die Euthanasie
selektioniert (vg. Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts Wien, Prozeß Dr. Gross
gegen Dr. Vogt) und hat in der Zeit einer von ihm verschwiegenen Beurlaubung vom
Kriegsdienst "reichlich einen Monat lang . . .einen guten Teil der Reichsauschußarbeit" ,
also des Ansuchens um Mordbewilligung, geleistet. Ein niederträchtigeres Verhalten ist
kaum vorstellbar. Das Verhalten von Dr. Gross wäre demnach zweifellos selbst nach
dem NS- Recht nach § 211 RStGB zu beurteilen. Warum haben die Justizbehörden diese
Beurteilung nicht vorgenommen bzw. wie ist aus heutiger Sicht Ihre Auffassung dazu?
5. Zum Zeitpunkt des Volksgerichtsprozesses gegen Dr. Illing waren noch 772
Krankengeschichten gestorbener Kinder vorhanden, das gerichtsärztliche Gutachten im
Prozeß Dr. Illing überprüfte aber nur exemplarische 18. Aus der Dissertation von
Matthias Dahl, Endstation Spiegelgrund, Göttingen 1996, geht hervor, daß heute
Aktenbestände, Krankengeschichten und Gehirnpräparate fehlen.
Nach uns vorliegenden Informationen ist es denkbar, daß Dr. Gross auch in anderen
Abteilungen der Klinik "Am Spiegelgrund" tätig geworden ist. So soll ein Johann
Jädige, der die Einberufung zum Volkssturm verweigert hat, in die Klinik "Am
Spiegelgrund" eingeliefert worden sein und kurz darauf an Lungenentzündung verstorben
sein. Dr. Gross soll in diesem Fall die Totenbescheinigung ausgestellt haben.
Im Zuge der von der Stadt Wien vorgesehenen Bestattung der Gehirnpräparate der
ermordeten Kinder haben sich verschiedene Angehörige gemeldet, deren Verwandte am
Spiegelgrund ermordet worden sind. Einige von ihnen haben Dr. Gross offensichtlich
belastet.
Dr. Gross hat offensichtlich in seiner eigenen Erinnerung große Lücken, die durch die
Herbeischaffung der Personalakten der Stadt Wien bzw. aus dem Kriegsarchiv bzw. von
deutschen Archiven und einschlägigen Gerichtsverfahren beseitigt werden könnten.
a) Wieviele Krankengeschichten existieren noch?
b) Wieviele Krankengeschichten existieren noch, in denen Dr. Gross aufscheint?
Sind Aktenbestände bzw. Gehirnpräparate verschwunden?
d) War Dr. Gross auch in anderen Abteilungen der Klinik "Am Spiegelgrund" tätig bzw.
hat er beim Tod des Johann Jädige eine wie auch immer geartete Rolle gespielt?
e) Werden die Personen, die sich bei der Gemeinde Wien bzw. bei verschiedenen
Medien ("profil", "News") gemeldet haben, zeugenschaftlich befragt?
f) Werden im Rahmen der von Ihnen angekündigten "Schaffung einer umfassenden
Beurteilungsgrundlage" Unterlagen zur Kindereuthanasie aus deutschen Archiven bzw.
die oben erwähnten Akten angefordert?
6. Zu den Aufgaben der Justiz zählt auch, Opfern von Verbrechen und ihren Angehörigen
zu ihrem Recht auf Entschädigung zu verhelfen. Welche Anstrengungen werden Sie
diesbezüglich unternehmen?