5083/AB XXIV. GP

Eingelangt am 23.06.2010
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BM für Justiz

Anfragebeantwortung

 

 

DIE  BUNDESMINISTERIN
           FÜR  JUSTIZ

BMJ-Pr7000/0117-Pr 1/2010

 

An die

                                      Frau Präsidentin des Nationalrates

                                                                                                                           W i e n

 

zur Zahl 5132/J-NR/2010

 

Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Helene Jarmer, Freundinnen und Freunde haben an mich eine schriftliche Anfrage betreffend „Gewalt und sexueller Missbrauch in Behinderteneinrichtungen“ gerichtet.

Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:

Zu 1 bis 3:

Eingangs weise ich darauf hin, dass die Aufsicht über Heime, in deren Rahmen präventiv gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch vorgegangen werden kann, nach der Bundesverfassung Ländersache ist. Die Justiz kann in diesem Bereich nur reaktiv tätig werden.

Ein runder Tisch zum Thema „sexueller Missbrauch in geschlossenen Heimen“ ist derzeit nicht geplant. Bei Vorhaben des Bundesministeriums für Justiz, die legistische Änderungen implizieren, von denen Behinderte spezifisch betroffen sind, wird regelmäßig das Gespräch mit Betroffenen gesucht. Das betrifft selbstverständlich auch Vorhaben im Bereich des Behindertenrechts.

Zur rechtlichen Situation, zu den getroffenen Maßnahmen der Gesetzgebung zur Verbesserung der Situation von Behinderten und zur Vermeidung von Gewalt und sexuellem Missbrauch in Behinderteneinrichtungen weise ich auf Folgendes hin:

Strafrecht

Im Bereich des Strafrechts genießen Menschen mit Behinderungen denselben Schutz gegen Eingriffe in ihre persönliche Freiheit wie Menschen ohne Behinderungen. Darüber hinaus gibt es zwei Sondertatbestände, die unter anderem Menschen mit Behinderungen besonderen strafrechtlichen Schutz angedeihen lassen. Dabei handelt es sich um die §§ 100 (Entführung einer geisteskranken oder wehrlosen Person) sowie 107b Abs. 3 Z 1 (Qualifizierte fortgesetzte Gewaltausübung) des Strafgesetzbuches (StGB).

Nach ersterer Bestimmung ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen, wer eine geisteskranke oder wehrlose Person in der Absicht entführt, dass sie von ihm oder einem Dritten sexuell missbraucht werde. Nach der zweitgenannten Bestimmung ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen, wer die Tat gegen eine unmündige oder wegen Gebrechlichkeit, Krankheit oder einer geistigen Behinderung wehrlose Person begeht.

Die vergleichbare Strafdrohung bzw. Grundstrafdrohung in Bezug auf Menschen ohne Behinderungen beträgt in beiden Fällen lediglich Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren.

Menschen mit Behinderungen sind in Österreich – wie alle anderen Menschen auch – selbstverständlich in ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie vor Folter und unmenschlicher Behandlung geschützt.

Menschen mit Behinderungen genießen denselben strafrechtlichen Schutz vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch wie Menschen ohne Behinderungen. Darüber hinaus lassen zwei Sonderbestimmungen Menschen mit Behinderungen besonderen strafrechtlichen Schutz angedeihen. Dabei handelt es sich um die §§ 92 (Quälen oder Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen) sowie 205 (Sexueller Missbrauch einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person) StGB.

Nach ersterer Bestimmung ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen, wer einem anderen, der seiner Fürsorge oder Obhut untersteht und der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder wegen Gebrechlichkeit, Krankheit oder einer geistigen Behinderung wehrlos ist, körperliche oder seelische Qualen zufügt.

Dasselbe Verhalten ist gegenüber Menschen ohne Behinderungen straflos (sofern nicht eine Körperverletzung vorliegt).

Nach der zweitgenannten Bestimmung ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen, wer eine wehrlose Person oder eine Person, die wegen einer Geisteskrankheit, wegen einer geistigen Behinderung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einer dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig ist, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, unter Ausnützung dieses Zustands sexuell missbraucht.

Bei (erwachsenen) Menschen ohne Behinderungen bedarf es grundsätzlich einer Gewaltanwendung, um Strafbarkeit sexueller Kontakte zu bewirken.

Art. 15 und 17 der UN-Behindertenrechtskonvention

Das in den Art. 15 und 17 der UN-Behindertenrechtskonvention enthaltene Verbot der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit sowie der Unterwerfung unter medizinische oder wissenschaftliche Versuche ohne freiwillige Zustimmung des Betroffenen berührt die Frage der Zulässigkeit von medizinischen Behandlungen bzw. Heilversuchen an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen. Medizinische Eingriffe verletzen – zivilrechtlich betrachtet – immer das absolut geschützte Rechtsgut der körperlichen Integrität und bedürfen daher der Rechtfertigung durch die Einwilligung des Betroffenen. Fehlt diesem aufgrund seiner Beeinträchtigung die hierfür erforderliche Einsichtsfähigkeit, so muss diese Entscheidung – Fälle von Gefahr im Verzug ausgenommen – durch einen Vertreter substituiert werden. Dies ist für den Bereich der medizinischen Behandlungen im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) in den §§ 283 (Sachwalter), 284b (nächste Angehörige) und 284f (Vorsorgebevollmächtiger) geregelt. Dabei ist der Vertreter jeweils verpflichtet, das Wohl der vertretenen Person bestmöglich zu fördern und ihren Wünschen und Vorstellungen zu entsprechen (§§ 275 Abs. 1, 281 Abs. 1, 284e Abs. 1 und 284h Abs. 1 ABGB).

Nach § 284 zweiter Satz ABGB kann der Sachwalter einer Forschungsmaßnahme, die mit einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Persönlichkeit der behinderten Person verbunden ist, nicht zustimmen, es sei denn, die Forschung kann für deren Gesundheit oder Wohlbefinden einen unmittelbaren Nutzen erbringen. Diese Bestimmung will Missbrauch von einwilligungsunfähigen behinderten oder älteren Menschen im Zusammenhang mit Forschung hintanhalten.

Das Strafrecht gewährleistet Menschen mit Behinderungen denselben strafrechtlichen Schutz vor medizinischen Eingriffen ohne deren Einwilligung, Zwangssterilisation und Zwangsabtreibungen wie Menschen ohne Behinderungen.

Strafverfahren

Für einen besseren Zugang zum Recht sieht § 56 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) vor, dass für Beschuldigte, die gehörlos oder stumm sind, ein Dolmetscher für die Gebärdensprache beizuziehen ist, sofern sich der Beschuldigte in der Gebärdensprache verständigen kann. Andernfalls ist zu versuchen, mit dem Beschuldigten schriftlich oder auf andere geeignete Weise, in der sich der Beschuldigte verständlich machen kann, zu verkehren. Dadurch soll sichergestellt werden, dass diese Personen hinreichend über ihre Verfahrensrechte informiert werden und dem Verlauf des Verfahrens folgen können.

Auch bei Zeugeneinvernahmen sind Dolmetscher beizuziehen, damit der Zeuge zu mittelbaren oder unmittelbaren Wahrnehmungen befragt werden kann; darüber hinaus können psychisch kranke oder geistig behinderte Personen bei der Vernehmung eine Person ihres Vertrauens beiziehen (§ 160 Abs. 3 StPO).

Sowohl im Zivil- als auch im Strafverfahren wird hochgradig sehbehinderten Parteien, die nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, der Zugang zum Recht durch die Bestimmung des § 79a Abs. 1 Gerichtsorganisationsgesetz (GOG) garantiert. Danach hat das Gericht erforderlichenfalls – unter Kostentragung des Bundes – dafür Sorge zu tragen, dass diese Partei Kenntnis vom wesentlichen Inhalt der zugestellten Schriftstücke und der bei Gericht befindlichen Akten erlangt.

Interministerielle Arbeitsgruppe

Um eine effektive, rasche und unvoreingenommene Aufklärung von Misshandlungsvorwürfen – unabhängig von einer Behinderung der betroffenen Person – zu garantieren, hat das Bundesministerium für Justiz gemeinsam mit dem Bundesministerium für Inneres eine interministerielle Arbeitsgruppe gebildet, um ein abgestimmtes Vorgehen zur Aufklärung eines Verdachts von Misshandlungen zu vereinbaren. Ein Änderungsbedarf hat sich nicht zuletzt deshalb ergeben, weil sich die rechtlichen Grundlagen für Ermittlungen durch das Strafprozessreformgesetz (BGBl. I Nr. 19/2004), welches am 1. Jänner 2008 in Kraft getreten ist, geändert haben.

Als Ergebnis dieser Besprechungen hat das Bundesministerium für Justiz am 6. November 2009 einen an alle Staatsanwaltschaften und Gerichte adressierten Erlass betreffend Misshandlungsvorwürfe gegen Organe der Sicherheitsbehörden und Strafvollzugsbedienstete kundgemacht, um eine objektive und jeden Anschein der Voreingenommenheit auszuschließende Verfahrensführung zu garantieren. In diesem Erlass wird festgehalten, dass Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft, die gesetzlich zur Objektivität verpflichtet sind (§ 3 StPO), jeden ihnen zur Kenntnis gelangten Verdacht einer Misshandlung von Amts wegen aufzuklären haben (§ 2 Abs. 1 StPO). Abgesehen von unaufschiebbaren Amtshandlungen dürfen Ermittlungen nur von Organen durchgeführt werden, die nicht als befangen gelten. Wird ein Misshandlungsvorwurf geäußert, so ist dieser Verdacht der Staatsanwaltschaft gemäß § 100 Abs. 2 Z 1 StPO vom jeweils zuständigen Landeskriminalamt bzw. in Wien vom Büro für besondere Ermittlungen oder vom Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung unverzüglich, längstens jedoch binnen 24 Stunden, zu berichten.

Zur Beschleunigung der Vorgehensweise wird angeordnet, dass die genannten Dienststellen grundsätzlich die Ermittlungen weiter zu führen haben, sofern die zuständige Staatsanwaltschaft nichts anderes anordnet oder die Ermittlungen ganz oder teilweise an sich zieht. Zur Vermeidung jeden Anscheins einer Befangenheit betont der Erlass die Möglichkeit, das Gericht (§ 101 Abs. 2 zweiter Satz StPO) mit Ermittlungen zu beauftragen, die vor allem dann in Betracht zu ziehen ist, wenn höhere oder leitende Organe der Kriminalpolizei oder der Staatsanwalt von den Misshandlungsvorwürfen betroffen sind.

Zivilrecht

Menschen mit Behinderung genießen volle Gleichstellung mit nicht behinderten Personen. Soweit die Rechtsordnung Vorkehrungen zum Schutz einer Person trifft, geschieht dies in unterstützender und die Person möglichst wenig belastender Weise. Soweit durch das bürgerliche Recht besondere Formvorschriften für die vertragliche Verpflichtung von blinden oder stark sehbehinderten Personen bestehen, ist sichergestellt, dass die entsprechende Leistung des Notars unentgeltlich erbracht wird.

Sachwalterschaft

Die österreichische Rechtsordnung ist bemüht, Menschen mit Behinderungen ohne Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit am Rechtsleben teilnehmen zu lassen. Wo dies zu einer Schädigung der behinderten Person führen könnte, sieht das Gesetz die Beigebung eines Sachwalters vor, dessen Aufgabengebiet das Gericht nicht nach allgemeinen Kriterien, sondern individuell nach dem Schutzbedarf einzurichten hat. Ebenso kann das Gericht den Bereich, für den die Geschäftsfähigkeit eingeschränkt wird, individuell anpassen. Eine Sachwalterschaft kommt nur dann in Betracht, wenn keine andere Vorsorge getroffen wurde. Dies könnte etwa eine Vorsorgevollmacht, eine Vertretung in einfachen Angelegenheiten durch nächste Angehörige oder im Gesundheitsbereich eine Patientenverfügung sein. Wünsche der betreffenden Person nach der Bestellung einer bestimmten, vorher ausgewählten Person ihres Vertrauens zum Sachwalter können registriert und in den gerichtlichen Verfahren beachtet werden. Mit der Bestellung eines Sachwalters werden die übrigen Möglichkeiten der betroffenen Person in der Regel nicht eingeschränkt. Ihr bleibt das Wahlrecht erhalten, für sie kann ein Unternehmen betrieben werden. Für eine Eheschließung ist jedoch immer zusätzlich die Zustimmung des Sachwalters erforderlich.

Zur Vertretung von Patienten einer Krankenanstalt oder Abteilung für Psychiatrie sind von einem geeigneten Verein namhaft gemachte Patientenanwälte zu bestellen, die die Patienten im Unterbringungsverfahren sowie bei der Wahrnehmung ihrer sonstigen Rechte nach dem Unterbringungsgesetz vertreten.

Die Vertretung von Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen und Krankenanstalten bei der Wahrnehmung ihres Rechts auf persönliche Freiheit nach dem Heimaufenthaltsgesetz obliegt geeigneten Vereinen, die dafür besonders ausgebildete und geschulte Personen (Bewohnervertreter) namhaft zu machen haben.

Alle drei Aufgaben – Vereinssachwalterschaft, Patientenanwaltschaft und Bewohnervertretung – sind Vereinen übertragen, deren Eignung von der Bundesministerin für Justiz festgestellt wird und die zum Großteil vom Bund finanziert werden. Die besondere Qualitätssicherung ist dadurch gewährleistet, dass die Vereine eine spezielle Ausbildung und laufende Fortbildung ihrer Mitarbeiter sicherstellen sowie diese anleiten und überwachen. Darüber hinaus werden die Vereine selbst durch die Bundesministerin für Justiz fachlich beaufsichtigt. Neben der Einzelvertretung treten die Vereine im Sinne einer „kollektiven“ Interessenwahrnehmung auch allgemein für die gleichberechtigte Anerkennung von Menschen mit Behinderungen vor dem Gesetz ein.

1. Gewaltschutzgesetz 1997

Mit dem 1. Gewaltschutzgesetz 1997 wurde die Bestimmung des § 1328 ABGB geändert, die den Opfern sexuellen Missbrauchs unter anderem durch die Ausnutzung eines Abhängigkeits- und Autoritätsverhältnisses Anspruch auf Ersatz ihres Schadens einschließlich der ideellen Entschädigung wegen des Eingriffs in die geschlechtliche Selbstbestimmung verleiht.

Zivilverfahren

§ 73a Zivilprozessordnung (ZPO) und § 4 Abs. 3 Außerstreitgesetz (AußStrG) sehen vor, dass einem zivilrechtlichen oder außerstreitigen Verfahren, an dem eine hochgradig hör- oder sprachbehinderte Partei beteiligt ist, ein Dolmetscher für Gebärdensprache beigezogen werden muss. Die Kosten für dessen Teilnahme an Verhandlungen und Unterredungen mit dem Rechtsanwalt werden vom Bund getragen. Durch diese Maßnahme wird ein allenfalls aus der Behinderung resultierender Nachteil verhindert und der Zugang zum Recht gesichert.

§ 289b ZPO normiert den Grundsatz, bei der Vernehmung von minderjährigen Personen auf deren geistige Reife Rücksicht zu nehmen. Zudem besteht die Möglichkeit, die Vernehmung durch einen geeigneten Sachverständigen vornehmen zu lassen. Eine individuelle Behandlung von behinderten Kindern ist damit gewährleistet.

Bauliche Maßnahmen

Im Zuge der Neuerrichtung und Generalsanierung von Gerichtsgebäuden wird auf die barrierefreie Erreichbarkeit und Erschließung der Gebäude geachtet. In jedem Neubau wird zumindest ein barrierefrei erreichbarer Verhandlungssaal und ein ebensolches Service-Center errichtet; diese werden mit induktiven Höranlagen für Hörgeräteträger ausgestattet und an das taktile Leitsystem angebunden.

Parallel werden auch die anderen Gerichtsgebäude sukzessive mit diesen Vorkehrungen ausgestattet.

Barrierefreier Onlinezugang

Der Sicherstellung eines barrierefreien Online-Zugangs zu den Informations- und Serviceangeboten der Justiz galt und gilt besonderes Augenmerk. So wurde bei dem im Jahr 2009 vorgenommenen Relaunch der Website www.justiz.gv.at Wert auf eine klare Struktur und eine übersichtliche Gestaltung des Angebotes gelegt. Das Bundesministerium für Justiz hat sich dabei an den Richtlinien WCAG 2.0 des WAI / W3C orientiert.

. Juni 2010

 

(Mag. Claudia Bandion-Ortner)