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Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt Mag. Karoline Edtstadler: Geschätzte Frau Präsidentin! Geschätzte Damen und Herren Abgeordnete! Hohes Haus! Liebe Zuseherinnen und Zuseher! Vor allem aber: Liebe Bürgerinnen und Bürger, die Sie sich an der Zukunftskonferenz aktiv beteiligt haben! Die Idee zur Zu­kunftskonferenz wurde bereits vor drei Jahren von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt. Damals war noch keine Rede von den vielen Umbrüchen, die wir jetzt in der Zwischenzeit erleben mussten, von einer Pandemie, einem Krieg auf europäischem Boden. Dennoch war schon damals die Idee, die Bürgerinnen und Bürger einzubinden, wenn es darum geht, die Europäische Union weiterzuentwickeln, in welche Richtung auch immer.

Bereits damals ist man davon ausgegangen, dass man einen breit angelegten Prozess ins Leben rufen möchte, dass man Lösungen für europäische Probleme und Herausfor­derungen aufzeigen sollte, dass wir uns gemeinsam den brennenden Fragen der Zukunft der Europäischen Union stellen – und Österreich war von Anfang an ein Unterstützer dieser Zukunftskonferenz.

Es ist schon gesagt worden, die Zukunftskonferenz wurde pandemiebedingt auf euro­päischer Ebene nicht wie geplant am 9. Mai 2020 gestartet, sondern erst im Jahr 2021. Allerdings habe ich diesen Prozess in Österreich bereits im Juni 2020 gestartet, denn es ist mir wichtig, die Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen, und es braucht natürlich auch eine gewisse Zeit, bis dieser Prozess, diese Konferenz, die dahinter stehenden Ideen bei den Menschen ankommen.

Wie habe ich das gemacht? – Ich habe Stakeholder in das Bundeskanzleramt einge­laden, ich habe Zukunftslabore abgehalten, ich habe mit Schülerinnen und Schülern dis­kutiert, ich bin durch das ganze Land gefahren, vom Burgenland bis nach Vorarlberg, ich war in allen Bundesländern mehrfach unterwegs. Seit Mai 2021, als die Konferenz dann tatsächlich auf europäischer Ebene gestartet wurde, darf ich Ihnen sagen, hat es in Ös­terreich jeden zweiten Tag eine Diskussionsveranstaltung zur Zukunft der Europäischen Union gegeben, und, Frau Kollegin Steger, es gab 1 421 Beiträge aus Österreich; damit liegen wir an sechster Stelle. Wo sind diese Beiträge eingemeldet worden? – Auf der multilingualen Plattform der Europäischen Kommission. Es ist ja die Frage gestellt wor­den, wo man sich beteiligen konnte; das ist die Antwort.

Die Weiterentwicklung der Europäischen Union ist den Österreicherinnen und Österrei­chern ein Anliegen. Es kommt darauf an, in welche Richtung wir gehen, und wir haben es ja gesehen: Ob in der Gemeinde, im Verein, am Stammtisch, im digitalen Chatroom – ich habe auch digitale Sprechstunden abgehalten –, in der Schulklasse oder im Zu­kunftscafé: Es wurde diskutiert, und, meine Damen und Herren, das ist der Sinn dahinter, das ist gelebte Demokratie! (Beifall bei der ÖVP sowie bei Abgeordneten von Grünen und NEOS.)

Ich möchte dennoch sagen, dass wir natürlich Zeit verloren haben. Wir haben durch die Pandemie Zeit verloren, und es ist auf europäischer Ebene nicht alles so gelaufen, wie ich mir und viele andere sich das tatsächlich vorgestellt hätten, denn es gab prozedurale Fragen zu klären, es gab interinstitutionelle Streitigkeiten, wer denn welche Rolle spielt. Ja, auch das gehört dazu, aber es ist schade, dass wir diese Zeit sozusagen verloren haben.

Nach über zwei Jahren Tätigkeit als Europaministerin muss ich auch sagen, dass der Befund, den ich jetzt stelle, ein durchaus beunruhigender ist, denn insbesondere an den Umbrüchen, die wir erleben, sehen wir, dass Europa, dass unser European Way of Life unter Druck ist, um nicht zu sagen in Gefahr. Wir erleben einen Angriffskrieg, wir erleben die Spannungen mit Russland, wir erleben die Energieabhängigkeit, wir sehen das Stre­ben Chinas und wir haben während der Pandemie auch erlebt, dass es eine Schatten­seite der Globalisierung gibt, und die heißt Unterbrechung der Lieferketten.

Die gute Nachricht ist allerdings: Die Stärke der Europäischen Union liegt in ihrer Einig­keit, und diese Einigkeit gilt es zu zeigen, und die zeigen wir auch im Moment. Wir müs­sen jetzt gemeinsam den European Way of Life absichern, und da gehören natürlich auch Punkte dazu, wie sie schon von Abgeordnetem Lopatka angesprochen wurden: die Subsidiarität da mitzudenken, die Probleme dort zu lösen, wo sie entstehen, und na­türlich nicht alles auf europäische Ebene zu heben, wie das manche hier glauben ma­chen wollen und durchaus für populistische Ansagen hier nützen.

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle heute einige Ideen aus diesem breiten Prozess prä­sentieren, zusammengefasst in drei Forderungen, die man daraus ableiten kann.

Das Erste, was wir tun müssen, ist das Voranstellen der geopolitischen Interessen der Europäischen Union, das Zweite ist die Rückbesinnung auf die Wirtschaftsmacht der Europäischen Union, und das Dritte betrifft die nachhaltige Stärke der Europäischen Uni­on im Inneren. – Was meine ich damit?

Die eigenen Interessen Europas in den Vordergrund zu stellen heißt, stark zu sein, heißt, in der Welt auch eine Rolle zu spielen. Da geht es um einen Außengrenzschutz, bei dem ganz klar gesagt wird: Wer nach Europa kommt, kann nur hierbleiben, wenn er einen Asylgrund vorzuweisen hat. Da geht es selbstverständlich um die Westbalkanerweite­rung, denn der Westbalkan ist eine Frage der Sicherheit für die Europäische Union und auch eine Frage der Glaubwürdigkeit für die Europäische Union. Wir haben viel zu viele Versprechungen gemacht und diese nicht eingelöst. Die Depression dort ist sehr, sehr groß, und es reicht ein Streichholz, um dort einen Flächenbrand auszulösen. Wir müssen jetzt diese Versprechen auch einlösen.

Klarerweise ist es gerade in der jetzigen Situation nicht angenehm, abhängig von russi­schem Gas zu sein, aber auch in anderen Bereichen abhängig zu sein, wie etwa von seltenen Erden, wenn wir davon reden, dass wir die Energiewende in Österreich und in Europa schaffen wollen.

Beim zweiten angesprochenen Punkt, der Rückbesinnung auf die Wirtschaftsmacht, geht es darum, dass wir in Europa wieder führend sein müssen und wollen, was Inno­vation betrifft, was auch Wirtschaftskraft betrifft. Wir wollen nicht nur Unternehmen hier gegründet sehen, sondern wir wollen auch, dass sie hier bleiben, dass die Investoren auch hier investieren, damit auch die Wertschöpfung hierbleibt.

Ich glaube, gerade in der Pandemie haben wir gesehen, dass es wichtig war, dass Ös­terreich die AUA unterstützt hat, Deutschland hat das Gleiche mit der Lufthansa ge­macht, um nicht in Abhängigkeiten von tatsächlich staatlich geförderten Linien aus dem asiatischen Bereich zu geraten, aber jetzt geht es darum, das Wettbewerbsrecht auch auf europäischer Ebene in das 21. Jahrhundert zu führen.

Wir sollten uns alle gemeinsam darauf einigen, dass wir kein Gold Plating, keine Überer­füllung von europäischen Richtlinien in den Nationalstaaten vorantreiben, denn das führt dazu, dass Unternehmerinnen und Unternehmer erst wieder 27 einzelne Bestimmungen anschauen müssen und eben nicht einen einheitlichen Binnenmarkt vorfinden, den es jetzt zur Vollendung zu bringen gilt.

Und wir brauchen neben der Einschränkung der illegalen Migration natürlich eine aktive Einwanderungspolitik. Im Moment verlassen Tausende Russinnen und Russen, gut aus­gebildet, ihr Land. Die sollen nicht nach Amerika abwandern, die brauchen wir hier in Europa. Wir brauchen die Immigration von Hochqualifizierten, diese dürfen wir nicht schwer machen, so wie das im Moment der Fall ist.

Ein flexibler Arbeitsmarkt würde auch bedeuten, dass jemand im Salzburger Lungau lebt und bei einer belgischen Firma arbeitet. Oft ist dies aber noch mit sehr hohen bürokra­tischen Hürden verbunden.

Mit der Berücksichtigung all dieser Punkte, die damit nur beispielhaft aufgezeigt sind, können wir die Wirtschaftsmacht Europas wieder in den Vordergrund stellen, denn der Binnenmarkt ist und bleibt unsere größte Chance, unsere größte Kraft.

Und der dritte Punkt ist nach innen gerichtet: die nachhaltige Stärkung der europäischen Institutionen. Was meine ich damit? – Ich glaube, es ist gut und richtig, dass wir 27 EU-Kommissare haben. Verzeihen Sie mir die Anmerkung, aber die Herausforderungen wer­den uns auch in der nächsten Zeit nicht ausgehen, um diese zu beschäftigen.

Ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren, wie wir es in Artikel 7 haben, wird wohl auch irgend­wann einmal einen Ausgang finden müssen, und ich glaube, auch da gibt es mittlerweile sehr viele andere Mechanismen, etwa die Konditionalität, nämlich das Verbinden von budgetären Fragen mit der Rechtsstaatlichkeit, die in den Verträgen verankert gehören.

Mit großem Stolz möchte ich an dieser Stelle auch sagen, dass es gelungen ist, in Ös­terreich mittlerweile über 1 500 Europagemeinderäte zu haben, die eine Brücke bilden von der Europäischen Union, die nicht immer ganz leicht zu verstehen ist, zur Gemeinde, zum Bürger, dahin, wo die Menschen Probleme, Sorgen und Anliegen haben. Sie über­nehmen die Aufgabe, Informationen weiterzugeben, auch Hilfestellungen anzubieten, wenn es darum geht, Förderungen abzuholen und in der eigenen Gemeinde Dinge vo­ranzutreiben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Europäische Union war in den letzten Jahr­zehnten ganz sicher Garant für Freiheit, Frieden, Sicherheit, Wohlstand und auch Men­schenrechte. Die Europäische Union wird aber nicht an ihrer Geschichte gemessen. Sie wird daran gemessen, Lösungen für die Herausforderungen der Gegenwart anzubieten und Antworten auf die Fragen der Zukunft zu finden.

Die EU – und da bin ich ganz offen zu Ihnen – ist oft die Antworten auf brennende Fragen schuldig geblieben, aber es liegt jetzt an uns, diese Europäische Union weiterzuentwi­ckeln. Es liegt an uns, die Dinge, die vorgebracht worden sind – und ich möchte jeden einzelnen Beitrag wirklich groß wertschätzen –, auch umzusetzen. Daher ist das jetzt nicht das Ende der Zukunftskonferenz, sondern es ist erst der Beginn.

Am Ende meiner Rede möchte ich Ihnen auch noch den Aktivitätenbericht zur Zukunft Europas (ein Exemplar in die Höhe haltend) ans Herz legen; er ist unterwegs zu Ihnen. Er umfasst einen kleinen Überblick über das, was Österreicherinnen und Österreicher an Ideen, an Aktivitäten entwickelt haben, und ich glaube, das ist es, was wir hochhalten sollten, und daraus sollten wir als Politikerinnen und Politiker jetzt auch den Mut schöp­fen, die großen Reformen anzugehen, um die Europäische Union in eine bessere Zu­kunft zu führen. – Vielen Dank. (Beifall bei ÖVP und Grünen.)

12.10

Präsidentin Doris Bures: Nächste Rednerin: Frau Abgeordnete Carina Reiter. – Bitte.