10.16

Bundeskanzler Sebastian Kurz: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Es ist kein ungewohnter Anblick, dass das Hohe Haus wieder so besetzt ist, wie es be­setzt sein soll. Es ist noch immer kein Normalzustand, wenn jeder zweite Sessel frei ist und viele der Abgeordneten ihrer Tätigkeit von der Galerie aus nachkommen müssen, aber es zeigt, was gerade in Österreich stattfindet: der Versuch, wieder ein Stück mehr Normalität einkehren zu lassen, trotz der Gewissheit, dass wir nach wie vor nicht über den Berg sind, trotz der Gewissheit, dass das Virus nicht von heute auf morgen verschwunden sein wird. Trotzdem wird der Versuch, damit zu leben, unternommen.

Ich verstehe vollkommen, dass wir in einer Phase leben, in der viele Menschen Angst haben, in der es viel Unsicherheit gibt, in der es viel Ungewissheit gibt. Das führt natürlich auch zu vielen Fragen, da und dort zu Anspannung und bei manchen auch zu Unsicherheit, wie damit umgegangen werden soll. Es ist nicht hilfreich für uns, das zu wissen, aber es ist trotzdem ein Faktum: Es handelt sich um eine globale Krise, um ein Virus, das weltweit für viele Menschen Krankheit, Leid und Tod bedeutet, um ein Virus, das eine Weltwirtschaftskrise ausgelöst hat, wie wir es seit Langem nicht erlebt haben.

Das Wichtigste und Gute gleich vorweg: Wir als Österreich sind besser durch diese Krise gekommen als andere Länder. Wir haben es geschafft, den Zusammenbruch unserer Gesundheitssysteme zu verhindern. Wir hatten nicht so eine Situation wie in einem unserer Nachbarländer, dass Ärzte darüber entscheiden müssen, wer leben darf und wer sterben muss. Wir haben viele Leben gerettet, und der Grund dafür sind Sie alle, liebe Österreicherinnen und Österreicher. Ich möchte mich daher zu Beginn gleich noch einmal dafür bedanken, dass alle in den letzten Wochen so diszipliniert reagiert haben und dadurch in Österreich Leben gerettet worden sind. (Beifall bei ÖVP und Grünen.)

Wir sind jetzt in Phase zwei angekommen. Phase zwei ist das Wiederhochfahren un­serer Wirtschaft, das Wiederhochfahren unserer Gesellschaft, das Wiederhochfahren unserer Republik. Ich würde Ihnen gerne sagen, dass heute alles wieder so ist, wie es einmal war, und dass es das Virus in ein paar Wochen nicht mehr gibt, nur entspräche das ist nicht der Realität, es wäre gelogen.

Auch wenn manchen die Situation nicht gefällt, dass wir uns noch in den nächsten Monaten in einer Phase der neuen Normalität werden bewegen müssen, so entspricht das doch der Wahrheit. (Zwischenrufe bei der FPÖ.) Der wirkliche Durchbruch wird erst gelingen, wenn es einen Impfstoff gibt oder ein Medikament erfunden wird. Ab die­sem Zeitpunkt wird die Welt wieder in Ordnung sein und wir können zu all dem zurückkehren, was wir lieben und schätzen und was für uns immer Selbst­ver­ständ­lichkeit war. Bis dahin – und so ehrlich müssen wir sein – müssen wir aber gemeinsam versuchen, bestmöglich mit dem und bestmöglich trotz des Virus zu leben.

Andere Länder sind an ähnliche Situationen gewohnt. Ich habe das als Außenminister in unterschiedlichen Teilen der Welt miterlebt: Was für uns Selbstverständlichkeit ist, das ist anderswo nicht Selbstverständlichkeit. Wer bei uns außer Haus geht, der fühlt sich sicher. Egal ob Mann oder Frau, egal zu welcher Uhrzeit – man kann das Haus verlassen und auf der Straße spazieren gehen. In vielen anderen Ländern dieser Welt überlegen sich Menschen sehr genau: Soll ich hinausgehen, kann ich hinausgehen, ist es draußen sicher? Geht das zu dieser Uhrzeit? In vielen anderen Ländern der Welt fragt man sich, wenn man von einer Gelse gestochen wird: Kann das der Beginn einer tödlichen Krankheit sein oder ist es eh nur ein harmloser Gelsenstich? In anderen Ländern dreht man das Wasser auf, trinkt aus der Leitung – und kann sich nie sicher sein, ob damit nicht eine Krankheit verbunden ist. (Zwischenruf der Abg. Belakowitsch.)

Wir sind in Österreich Gott sei Dank in der Situation, dass wir mit all dem wenig Erfahrung haben. Wir sind daran gewohnt, dass es Sicherheit gibt, dass wir uns frei bewegen können, dass vieles ganz locker und einfach und selbstverständlich verläuft. Was wir in den nächsten Monaten gemeinsam werden erlernen müssen, ist, mit dem Virus zu leben und uns an Maßnahmen wie Abstand halten, Social Distancing, das Tragen von Masken, besondere Hygienevorschriften, das Vermeiden von sozialen Kontakten zu halten. (Zwischenruf des Abg. Kickl.)

Das Motto ist klar: So viel Freiheit wie möglich, so viel Einschränkung wie notwendig. Die Herausforderung in dieser Phase ist die gleiche wie die Herausforderung in der ersten Phase, in der wir als Österreich schon gut reagiert haben: Es gibt wenig Erfah­rungswerte, das Virus ist neu, es ist wissenschaftlich noch nicht zu 100 Prozent erforscht, und für uns in Österreich ist es sowieso eine Umstellung.

Was versuchen wir daher? – Wir versuchen zum einen auf die Erfahrung von anderen Ländern zu setzen, die diese Situation bereits früher als wir erleben mussten. Ich bin sehr dankbar über den internationalen Austausch mit Ländern wie Südkorea, Japan, China, Israel und anderen, die in der ersten Phase sehr hilfreich waren. Wir tauschen uns mit Experten in Österreich aus, mit Virologen, Mathematikern und Simulations­forschern, die uns als Bundesregierung dahin gehend beraten, welche Maßnahme möglich ist und welche Maßnahme welche Auswirkungen haben könnte. Zum Dritten sind natürlich auch die Zuständigen in den Bundesländern, in den Behörden für uns wichtig, weil dort eigene Erfahrungen für Österreich gemacht werden.

Wir werden oft gefragt – Beate Meinl-Reisinger hat das ja auch angesprochen –, nach welchen Kriterien Entscheidungen getroffen werden. – Es wäre schön, wenn es eine einzelne Zahl gäbe, es wäre schön, wenn es eine einzelne Wahrheit gäbe, aber es ist immer ein Mix an Zahlen und an Entwicklungen, auf die man schauen muss: die absolute Zahl der Neuinfizierten, die Frage, ob der Pfeil nach oben oder nach unten zeigt, die Frage, wer sich infiziert und ob diese Menschen ins Spital und vielleicht sogar auf die Intensivstation müssen oder nicht, und ständig die Frage der Kapazitäten im Gesundheitssystem.

Was den Bereich der Wirtschaft betrifft, so bin ich genauso wie im Gesundheitsbereich für Transparenz. Natürlich ist es richtig, dass die Daten, wie es am Arbeitsmarkt aus­sieht und wie viele Menschen in Kurzarbeit sind, laufend veröffentlicht werden, aber unser gemeinsames Ziel muss ja sein, dass diese Zahlen wieder sinken und dass die Wiederauferstehung unserer Wirtschaft (Zwischenruf der Abg. Belakowitsch) auch dazu führt, dass wir wirtschaftlich besser durch die Krise kommen als andere Länder. Das ist unser Ziel. (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Grünen.)

Zu den Fragen betreffend Gesundheitsbereich: Der Gesundheitsminister wird sicher noch dazu Stellung nehmen, aber ich garantiere Ihnen, Frau Abgeordnete, dass er, so wie ich ihn kenne, selbstverständlich wissenschaftliche Erkenntnisse, Expertenpapiere sowie alle Zahlen, Daten und Fakten gerne transparent macht und mit Ihnen teilt. (Abg. Loacker: Auf welcher Basis? – Weitere Zwischenrufe bei den NEOS.)

Zum Dritten, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, weil Sie das Thema der Bildung angesprochen haben: Sie haben vollkommen recht, das ist in Wien strenger gehandhabt worden als in anderen Bundesländern. (Abg. Meinl-Reisinger: Auch in Salzburg schwierig! Auch in Niederösterreich schwierig!) Es ist dort in der Phase der Krise die Entscheidung getroffen worden, mit den Eltern zu besprechen, ob Betreu­ungsbedarf besteht oder nicht. Ich habe selbstverständlich heute schon den Bildungs­minister ersucht, mit den Vertretern in den Bundesländern, in denen das der Fall ist, zu sprechen und darauf einzuwirken, dass es dort zu einer Änderung kommt. (Zwischen­ruf der Abg. Meinl-Reisinger.)

Klar ist – was ich gesagt habe –: Die Bildungseinrichtungen sind für jeden, der ein Betreuungsangebot braucht oder möchte, geöffnet, und ich bleibe dabei: Es ist keine Schande, das auch in Anspruch zu nehmen! (Beifall bei ÖVP und Grünen. – Abg. Loacker: ... das Wort „Schande“ sagen!) Dass die Schulen nicht von heute auf morgen geöffnet werden, ist im Interesse der Kinder, im Interesse der Eltern und der Groß­elterngeneration, und ich glaube, es wäre fahrlässig, da anders vorzugehen. (Beifall bei der ÖVP. – Abg. Belakowitsch: Wissen Sie, was Sie da sagen?)

Abschließend möchte ich mich dafür bedanken – auch wenn die Anspannung jetzt größer wird, und ich habe auch volles Verständnis dafür –, dass wir es in den letzten Wochen geschafft haben – ganz gleich welche Partei, ganz gleich ob Opposition oder Regierung –, mit kühlem Kopf gemeinsam Entscheidungen zu treffen, harte Entschei­dungen zu treffen, rasche Entscheidungen zu treffen, und somit nicht nur Leben ge­rettet worden sind, sondern wir jetzt auch die Möglichkeit haben, schneller als andere Länder auch wirtschaftlich wieder aus dieser Krise herauszukommen.

Richtig zu agieren ist nicht nur das Beste für die Gesundheit, sondern bietet auch die Chance, wirtschaftlich wieder schneller durchzustarten, und ist somit nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Gesellschaft der richtige Weg, und den versuchen wir als Regierung gemeinsam mit Ihnen zu gehen. – Vielen Dank. (Beifall bei ÖVP und Grünen.)

10.26

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist Klubobmann Wöginger. Ab nun beträgt die Redezeit 5 Minuten. – Bitte.