Dringlicher Antrag

der Abgeordneten Mag. Beate Meinl-Reisinger‚ MES, Kolleginnen und Kollegen betreffend „Bildungspolitik: Nicht Mittelmaß verwalten sondern Zukunft gestalten“ (3779/A)(E)

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Wir gelangen nun zur dringlichen Behandlung des Selbständigen Antrages 3779/A(E).

Da dieser inzwischen allen Abgeordneten zugegangen ist, erübrigt sich eine Verlesung durch den Schriftführer.

Der Dringliche Antrag hat folgenden Wortlaut:

Die jüngsten PISA-Ergebnisse geben erneut Anlass zur Sorge: Mit den Mathematik-Kenntnissen von Österreichs Schüler:innen geht es steil bergab und auch die Lesekompetenz ist weiter rückläufig. Viele Kinder und Jugendliche erwerben in unserem Bildungswesen nicht jene Kenntnisse und Fertigkeiten, die sie für ein gelingendes, selbstbestimmtes Leben benötigen.

Österreich liegt in allen Testbereichen nahe am OECD-Durchschnitt, obwohl es eines der reichsten Länder mit einem der teuersten Bildungssysteme der Welt ist. "Österreich müsste um so viel besser sein, wie es teurer ist", stellte der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher treffend im ZIB2-Interview fest. Das bezieht sich einerseits darauf, dass Österreichs Arbeitskräfte top-qualifiziert sein müssen, um trotz hoher Lohnkosten international wettbewerbsfähig zu sein, und andererseits darauf, dass angesichts der staatlichen Bildungsausgaben pro Schüler:in in Österreich bessere Ergebnisse zu erwarten wären.

Noch größer werden die Sorgen, wenn man hört, wie Sie - Herr Bildungsminister - mit den Ergebnissen umgehen: Sie seien froh, dass Österreich weniger stark abgestürzt sei als der Durchschnitt der OECD-Länder. Wie es mit der Schule weitergehen soll, können Sie nicht sagen - die Expertinnen und Experten seien am Zug.

Ein Bildungsminister, der sich über das Mittelmaß freut, ist auf seinem Posten fehl am Platz. Ihre Erleichterung, dass es anderen Ländern bei PISA 2022 noch schlechter ergangen ist, hilft keinem einzigen Jugendlichen, der die Schule ohne ausreichende Grundkenntnisse in Rechnen und Lesen verlässt.

Hinter den nackten PISA-Zahlen stecken die Schicksale von Kindern, die in der Schule vor unüberwindbaren Hürden stehen, ohne genügend Unterstützung zu erhalten. Die vertanen Chancen von Schüler:innen, die in ihren Talenten und Begabungen zu wenig gefördert werden. Die Schicksale von Jugendlichen, die auf der Suche nach einer Lehrstelle nur Absagen erhalten, weil sie die nötigen Voraussetzungen nicht vermittelt bekommen haben. Später dann die Schicksale von Erwachsenen, die ein Leben an der Armutsgrenze führen. Und letztlich auch das Schicksal unserer Gesellschaft, die bei der Integration und im Sozialsystem die Rechnung präsentiert bekommt für die fehlenden und fehlgeleiteten Investitionen im Bildungsbereich.

Ihre Reaktion auf die PISA-Ergebnisse und die Bildungsmisere, die große Teile unserer Jugend betrifft, zeigt dass es Ihnen an Problembewusstsein und an Zukunftsvisionen fehlt – und an Mut, echte Reformen parteiübergreifend anzugehen.

Bildung muss ein nationales Anliegen werden, an dem alle konstruktiven Kräfte gemeinsam arbeiten. Wenn das nicht gelingt, zahlen wir morgen alle den Preis für die aus dem Bildungsversagen resultierenden Probleme am Arbeitsmarkt, bei der Integration und bei der Sicherheit.

Die PISA-Studie gibt klare Hinweise, welche nationalen und internationalen Gründe für den Leistungsrückgang verantwortlich sind.

•        „Hausgemacht“ ist die Schwäche Österreichs in Bezug auf die Chancengerechtigkeit:

o         Unserem Bildungssystem gelingt es weniger als anderen, soziale Unterschiede auszugleichen und Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen und/oder niedrigem Bildungsniveau der Eltern ausreichend zu fördern. Stattdessen verschärft das österreichische System die Ungleichheit und führt zu großen Leistungsrückständen bei vielen der betroffenen Schüler:innen.

o         Gleiches gilt sinngemäß für die Integration von Migrant:innen – auch hier gelingt es Österreich weniger als anderen Ländern, für gleiche Chancen und Leistungen zu sorgen.

•        Weltweit präsent sind drei Faktoren: Der Lehrkräftemangel, die "Digitale Ablenkung" und die Auswirkungen der Corona-Krise. Die beiden erstgenannten Trends haben schon vor der Pandemie eingesetzt und haben laut OECD stärkere Auswirkungen als letztere.

o         Ein Mangel an Lehrkräften herrscht in vielen Ländern – in Österreich wurde er lange ignoriert, sodass jetzt 33% der getesteten Schüler:innen Schulen besuchen, die von diesem Mangel direkt betroffen sind. 18% der Schülerinnen und Schüler werden an Schulen unterrichtet, die laut Schulleitung unter unzureichender Qualifikation der Lehrkräfte leiden.

o         Während der Einsatz digitaler Endgeräte im Unterricht positive Auswirkungen auf das Leistungsniveau hat, führt die digitale Ablenkung durch private Smartphone-Nutzung zu massiv weniger Aufmerksamkeit und folglich weniger Lernfortschritt. Diesen Trend stoppen konnten nur jene Länder, die bereit waren, die private Handynutzung in der Schule massiv einzuschränken oder zu verbieten.

o         Die Corona-Krise hat sich vor allem durch Schulschließungen und schlecht vorbereitetes Distance-Learning negativ ausgewirkt.

Die Schwäche Österreichs in Bezug auf die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem ist seit Langem bekannt, ebenso wie die wichtigsten Lösungsansätze für das Problem: Eine indexbasierte Chancenbonus-Finanzierung macht Schulen mit sozialen Herausforderungen zu Aufstiegsschulen, mehr psychosoziales Supportpersonal stärkt Schüler:innen und entlastet Lehrer:innen, damit mehr Zeit für gelingenden Unterricht und individuelle Förderung bleibt. Doch obwohl schon im Bildungsdirektionen-Einrichtungsgesetz 2017 verankert wurde, dass die Zuteilung der Personalressourcen an die Schulen sich u.a. am sozio-ökonomischen Hintergrund und am Förderbedarf der Schülerinnen und Schüler zu orientieren hat, ist der indexbasierte Chancenbonus noch immer im Pilotprojekt-Stadium. Auch auf eine Qualitätsoffensive in der Elementarpädagogik, als Startrampe für eine gelingende Bildungslaufbahn, warten wir weiterhin vergeblich.

Als ausschlaggebend für erfolgreiche Schulsysteme wird von den PISA-Verantwortlichen – im Einklang mit anderen Studien wie der bekannten Metastudie „Visible Learning“ von John Hattie – immer wieder die Unterrichtsqualität durch engagierte, kompetente Lehrkräfte genannt. Die Lehrerinnen und Lehrer sind in jenen Systemen besonders motiviert und erfolgreich, in denen sie sich wirksam und wertgeschätzt fühlen. Dazu gehört eine hohe professionelle Autonomie und die Möglichkeit, sich in Form von Fach- und Führungskarrieren weiterzuentwickeln.

Das österreichische Schulsystem schafft es mit seiner starren, zentralistischen Verwaltungsstruktur, einer hohen Regelungsdichte, gering ausgeprägter Schulautonomie, wenig Supportpersonal und dem Fehlen eines „Mittleren Managements“ in den Schulen nicht, dieses motivierende Umfeld zu bieten.

Die Ressortstrategie „Klasse Job“ des BMBWF etabliert zwar neue Quereinstiegsmöglichkeiten und sorgt für Werbekampagnen und eine Reform des Lehramtsstudiums, lässt aber eine nachhaltige Aufwertung des Lehrer:innen-Berufs durch attraktivere Arbeitsbedingungen vermissen. Damit bleibt es beim „Löcher stopfen“, statt das Problem an der Wurzel zu packen.

Es ist höchste Zeit, dass die Regierung den Mut für grundlegende Reformen aufbringt. Reformen, die geprägt sind von Vertrauen statt Kontrolle, von Autonomie statt Bürokratie und von besten Chancen für jedes Kind, unabhängig vom Elternhaus.

Sie sind dieser Aufgabe nicht gewachsen, Herr Bundesminister. Wir fordern daher die Bundesregierung, allen voran den Bundeskanzler sowie den Vizekanzler, auf, Verantwortung zu übernehmen und Bildung zur Top-Priorität der Regierung in der verbleibenden Gesetzgebungsperiode zu machen, um über die Parteigrenzen und föderalen Ebenen hinweg ein nationales Reformprojekt zu entwickeln.

Aus diesem Grund stellen die unterfertigten Abgeordneten nachstehenden

Entschließungsantrag

Der Nationalrat wolle beschließen:

„Die Bundesregierung wird aufgefordert, unter der Leitung des Bundeskanzlers und des Vizekanzlers ein nationales Reformprojekt für das Bildungswesen in die Wege zu leiten, das über die Grenzen der Parteien und Gebietskörperschaften hinweg gemeinsam entwickelt wird.

Das Ziel der gemeinsamen Anstrengung muss sein, dass jedes Kind in Österreich, egal aus welcher Familie es kommt, die besten Chancen und die notwendige Förderung erhält. In Bezug auf internationale Vergleichsstudien darf nicht das Mittelmaß, sondern die Europaspitze als Orientierungspunkt dienen. Dazu sind insbesondere Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen, mit denen

•        eine Qualitätsoffensive in der Elementarpädagogik,

•        eine Chancenbonus-Finanzierung für Schulen mit sozialen Herausforderungen,

•        eine Attraktivierung des Lehrer:innen-Berufs mit Entwicklungsmöglichkeiten,

•        ein mittleres Management und psychosoziales Supportpersonal in den Schulen,

•        ein nachhaltiger Bürokratieabbau mit Abschaffung der Bildungsdirektionen und des Lehrerdienstrechts,

•        echte Schulautonomie nach dem Prinzip Vertrauen statt Kontrolle,

•        mehr Investitionen in die Integration, u.a. durch ein verpflichtendes Schulfach "Leben in einer Demokratie" ab der ersten Schulstufe,

•        sowie bessere Rahmenbedingungen für digitale Innovation bei Lehr- und Lernmitteln

herbeigeführt werden können.

In formeller Hinsicht wird verlangt, diesen Antrag im Sinne des § 74a Abs. 1 iVm § 93 Abs. 2 GOG-NR zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu behandeln und einem der Antragssteller Gelegenheit zur mündlichen Begründung zu geben.“

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Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich begrüße Herrn Bundesminister Polaschek, den der Dringliche Antrag betrifft.

Ich erteile der Frau Klubobfrau zur Begründung des Dringlichen Antrages das Wort. Gemäß § 74 Abs. 5 der Geschäftsordnung darf die Redezeit 20 Minuten nicht überschreiten. – Sie wissen das, Frau Klubobfrau. Bitte, Sie haben das Wort.