15.02

Abgeordnete Mag. Beate Meinl-Reisinger, MES (NEOS): Herr Präsident! Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung! Sehr geehrter Herr Bildungsminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir sind jetzt fast schon am Ende dieses Jahres, und ich glaube, man kann es als gesichert annehmen, dass wir dieses Jahr nicht als das Jahr der Bildung bezeichnen werden. Es wird nicht als das Jahr der Bildung in Österreich in die Historie eingehen.

Letzte Woche sind die Pisa-Ergebnisse veröffentlicht worden und ich mache mir in zweierlei Hinsicht sehr große Sorgen. Erster Punkt: Die Ergebnisse sind wirklich schlecht. Der zweite Grund aber, warum ich mir Sorgen mache – und das betrifft auch Sie, Herr Bildungsminister –, sind die Reaktionen auf diese Pisa-Ergebnisse gewesen, ganz zuvorderst auch Ihre Reaktion, Herr Minister. Diese lässt mich nämlich ratlos zurück.

25 Prozent – ein Viertel! – der 15-Jährigen in Österreich können laut der letzten Studie nicht sinnerfassend lesen. Ebenfalls 25 Prozent scheitern an den einfachsten Rechenaufgaben. Wir wissen seit vielen Jahren, dass Bildung in Österreich noch immer stark vererbt wird, und es ist völlig naturgemäß – wir haben sehr oft darauf hingewiesen –, dass sich diese Schere natürlich durch die Coronazeit noch erweitert hat, weil einfach nicht jedes Kind zu Hause ein eigenes Zimmer mit einem eigenen Schreibtisch gehabt hat, mit einem ruhigen Raum, wo man seinen Arbeiten nachgehen kann, und auch die Eltern oftmals nicht die Kapazitäten hatten, sich darum zu kümmern, dass das wirklich auch alles im Fernunterricht passiert.

Im Alter von zehn Jahren haben Kinder aus bildungsfernen Familien in Österreich einen Bildungsrückstand von bis zu drei Schuljahren gegenüber Kindern von Akademikerinnen und Akademikern. Das Ganze ist aber in einer Situation so, in der die Steuerzahler sehr viel Geld für dieses Bildungssystem zahlen, denn Österreich hat eines der teuersten Bildungssysteme der Welt. Das Ergebnis ist aber bestenfalls als mittelmäßig zu bezeichnen. Wenn man sich jetzt überlegt, welcher Mitteleinsatz da hineingeht, dann ist das Ergebnis dieser Pisa-Untersuchung eine Katastrophe, eine wahre Katastrophe. (Beifall bei den NEOS.)

Das Drama ist, dass wir mit unserem Bildungssystem weder Exzellenz, also herausragende Leistungen, noch Gerechtigkeit schaffen. Wir schaffen beides nicht, sondern das Mittelmaß. In allen Kategorien sacken wir ab. Wir werden in allen gemessenen Kategorien schlechter, nur nicht ganz so schnell schlecht oder so viel schlechter wie unser Nachbar Deutschland. Das hat offensichtlich schon ausgereicht, dass Sie, Herr Minister, sich über das Ergebnis freuen. Das ist ja wirklich ungeheuerlich! Die Ergebnisse der Pisa-Testung müssten doch alle Alarmglocken schrillen lassen. Sie aber zeigen sich erfreut, dass wir weniger stark abgestürzt sind als andere OECD-Länder. Herr Minister, ein Minister, der sich über Mittelmaß freut, ist selbst nichts anderes als Mittelmaß! Das ist tatsächlich eine Bankrotterklärung für Sie. (Beifall bei den NEOS.)

Sie haben in einem Interview auf die Frage, was Sie sich von Schulen im 21. Jahrhundert erwarten, gesagt, das sei eine Frage für Expertinnen und Experten. Herr Minister, vor ein paar Monaten bin ich hier gestanden und habe Sie ein bisschen spitz gefragt, warum Sie eigentlich Bildungsminister geworden sind. Ich möchte Sie ganz ernsthaft fragen, was Sie den ganzen Tag machen. (Beifall bei den NEOS.) Was ist Ihr Anspruch? Was ist Ihr Selbstverständnis? Was ist Ihre Leidenschaft? Wo ist Ihre Vorstellung des Bildungssystems? So hart es ist: Sie sind dieser Aufgabe und der Verantwortung eines Bildungsministers ganz offensichtlich nicht gewachsen. Wenn wir im schulischen Kontext bleiben: Wer seine Leistung in der Schule nicht bringt, bleibt sitzen. Wer seine Leistung in der Bundesregierung nicht bringt, sollte gehen – und das sollten Sie jedenfalls tun! (Beifall bei den NEOS.)

Was ist also die Aufgabe von Schule im 21. Jahrhundert? Die Welt ändert sich rasend schnell. Wir schreiben so schnell wie noch nie in der Geschichte der Menschheit die Geschichte der Menschheit gerade fort: künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Globalisierung, zunehmende Krisen, auch Verunsicherungen, es entstehen neue Jobs. Meine Töchter, das sage ich sehr oft, werden in 20 Jahren Antworten auf Fragen geben müssen, die ich noch nicht einmal kenne, die wir noch nicht einmal kennen! Da können Sie doch nicht sagen, dass unser Bildungssystem, so wie es derzeit aufgestellt ist, diesen Anforderungen gerecht wird. Das ist doch überhaupt nicht der Fall.

Es sind weder die Kenntnisse noch die Fertigkeiten, die mitgegeben werden. Natürlich geht es da um Grundfertigkeiten, Deutsch, Lesen können, Grundrechenarten, keine Frage. Darüber hinaus gibt es aber ganz viele Kompetenzen, die Kinder in der heutigen Zeit erlernen müssen, die in diesem starren Schulsystem definitiv nicht mehr so vermittelt werden.

Warum ist Bildung so wichtig? Bildung rührt auch an einer Kernerzählung, an dem, was ich auch als das gesellschaftliche Band in Österreich bezeichne. Es gibt eine Kernerzählung bei uns in Österreich, die lautet: Mach eine gute Bildung, mach eine gute Ausbildung, bring dich ein, zeige Leistung und Einsatz – dann kannst du ein gutes Leben führen, dann kannst du dir etwas aufbauen! Das ist eine ganz wesentliche Grunderzählung, die gerade für die Mitte der Gesellschaft ganz zentral ist. Das heißt, Bildung, die beste Bildung und Ausbildung sind ganz zentral für Aufstieg, für selbstbestimmtes Leben und damit natürlich auch für dieses Aufstiegsversprechen gegenüber den Jungen und der Mitte der Gesellschaft.

Jetzt möchte ich Sie ernsthaft fragen: Können wir dieses Versprechen aktuell noch guten Gewissens geben? Können unsere Kinder und auch wir als Eltern darauf vertrauen? – Mit Sicherheit bedauerlicherweise nicht.

Schule sollte ein Ort sein, an den Kinder gerne gehen, wo Lehrerinnen und Lehrer gerne arbeiten und unterrichten und wo auch die Eltern ein gutes Gefühl haben, wenn die Kinder in der Früh das Haus verlassen. Es geht natürlich, wie ich schon gesagt habe, um nötige Grundfertigkeiten, aber es geht doch vor allem auch um eines: Leidenschaft zu wecken, Neugier zu wecken, Talente zu entdecken. (Abg. Belakowitsch: Es geht um die Grundkompetenzen!) Jedes Kind kann etwas. Jedes Kind kann etwas! Es kann doch nicht sein, dass wir in den Schulen Flügel brechen, anstatt sie zu heben. (Beifall bei den NEOS.)

Nichts, und zwar wirklich nichts, ist so wichtig wie ein gutes Verhältnis zwischen einer Lehrerin und einem Lehrer und einer Schülerin und einem Schüler. Meine beiden Großmütter waren beide AHS-Professorinnen, eine davon dann auch Direktorin an einem Gymnasium. Ich treffe heute noch ehemalige Schüler:innen von ihnen, die mir sagen: Ihre Großmutter hat in einer Zeit, die schwierig war, an mich geglaubt! – Es war übrigens im 21. Bezirk, Franklinstraße, also nicht leicht. – Ihre Großmutter hat an mich geglaubt, und wenn sie nicht an mich geglaubt hätte, dann wäre nichts aus mir geworden. Schauen Sie, was aus mir geworden ist!

Genau darum geht es doch, diese Leidenschaft und auch den Glauben zu wecken, jedem Kind zu sagen: Du kannst was, du wirst was, ich glaube daran! Daher ist es so wichtig, auch die engagierten Lehrerinnen und Lehrer vor den Vorhang zu holen, die ebenfalls mit Sorge auf die Zukunft blicken.

Es freut mich außerordentlich, dass heute einer dieser Lehrer hier ist, Markus Astner, ein Pädagoge am Bundesrealgymnasium in der Au in Tirol. – Herzlich willkommen bei uns im Hohen Haus! (Beifall bei den NEOS und bei Abgeordneten der ÖVP.) Ich weiß jetzt nicht genau, wo er sitzt.

Wir haben einen Redewettbewerb gemacht, eine Sagt-sonst-keiner-Challenge, und er hat eine Rede eingeschickt, die auch gewonnen hat. Ich erlaube mir nun, die Rede des Herrn Astner vorzutragen:

„Ich mache mir Sorgen.“ (Ruf bei der ÖVP: ... am Burgtheater gemacht!) – Ich glaube, Sie sollten jetzt bitte den Respekt haben, zuzuhören, denn der Herr sitzt (auf die Galerie weisend) dort oben. (Beifall bei den NEOS und bei Abgeordneten der SPÖ.)

„Ich mache mir Sorgen. Große Sorgen.

Ich mache mir Sorgen, weil sich niemand von den Verantwortlichen den vielen Baustellen im Bildungsbereich ernsthaft annimmt.

Ich mache mir Sorgen, weil unsere Kinder und Jugendlichen nach wie vor nicht gemeinsam und voneinander lernen dürfen, wie es in vielen Staaten der Fall ist, sondern nach der 4. Klasse Volksschule getrennt werden.

Ich mache mir Sorgen, weil wir, die im Bildungssystem tätig sind, ein Spielball der unterschiedlichen politischen Ideologien sind, die eine Weiterentwicklung unseres Bildungssystems verhindern.

Ich mache mir Sorgen, weil wir so viele unsinnige bürokratischen Tätigkeiten machen müssen, obwohl wir viel mehr Zeit in die Ausbildung der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen investieren wollen.

Ich mache mir Sorgen, weil Bildung so kopflastig ist und durch die Vorgaben so wenig Zeit für die soziale, kreative, motorische, musische Bildung und Herzensbildung bleibt.

Ich mache mir Sorgen, weil die Politiker und Politikerinnen immer nur von Bildung reden, während wir vor Ort das ausbaden müssen, was sie in ihren Kämmerchen realitätsfremd ausdenken.

Ich mache mir Sorgen, weil unserer Kinder und Jugendlichen jeden Tag getestet, bewertet und beurteilt werden und sich nicht freier entfalten dürfen. Und weil sie sich bereits im Volksschulalter in einem Hamsterrad aus Leistungswahn, Konkurrenzdenken und Selektionsdruck befinden.

Ich mache mir Sorgen, weil ein inklusives/integratives Bildungssystem verhindert wird und weil manche die Teilhabe nicht ermöglichen möchten bzw. von Teilen nicht angenommen wird.

Ich mache mir Sorgen, weil wir im Bildungsbereich Tätigen so wenig Unterstützung bei unserer Berufung erhalten.

Ich mache mir Sorgen, weil benachteiligte Kinder und Jugendliche zusätzlich auch noch durch unser Bildungssystem benachteiligt werden.

Ich mache mir Sorgen, weil ein Teil der Gesellschaft so tut, als wäre unser Beruf ein Halbtagsjob.

Ich mache mir Sorgen, weil niemand die Verantwortung übernimmt und unser Bildungssystem endlich ins 21. Jahrhundert transformiert.

Ich mache mir Sorgen, weil man an den verantwortlichen Stellen so wenig auf jene hört, die eine andere Vorstellung von Bildung haben und weil man die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht ernst nimmt und vor allem auf jene hört, die einer veralteten Bildungsvorstellung das Wort reden.

Ich mache mir Sorgen, weil man jene Kindergärten und Schulen mit besonderen Herausforderungen sowie das dortige Personal im Stich lässt, statt die Herausforderungen auf viele Schultern zu verteilen.

Ich mache mir Sorgen, weil Österreich die Behindertenrechtskonvention unterschrieben hat, aber so säumig bei der Umsetzung ist.

Ich mache mir Sorgen, weil Mehrsprachigkeit immer noch als Makel denn als Gewinn verstanden wird und mehrsprachig aufwachsende Kinder benachteiligt werden.

Ich mache mir Sorgen, weil die Bildung in unserem Land keine Priorität hat und gegenüber anderen Ländern unterfinanziert wird.

Ich mache mir Sorgen, weil man den wunderschönen Beruf als Pädagogin und Pädagoge in den letzten 20 Jahren durch viele Verschlechterungen so unattraktiv gemacht hat, dass sich kaum noch welche finden, die diesen eigentlich so wertvollen, sinnstiftenden und schönen Job ausüben möchten. Gerade die jungen angehenden Pädagogen und Pädagoginnen hat man hierbei Rahmen- und Arbeitsbedingungen geschaffen, die sie kaum bewältigen können, überfordern und letztendlich dazu führen, dass sie ausbrennen oder das Handtuch werfen.

Ja, ich mache mir Sorgen… große Sorgen…“

Sehr geehrter Herr Astner, ich möchte mich für Ihre Rede bedanken, und ich möchte mich auch dafür bedanken, dass Sie diese Arbeit machen. (Beifall bei den NEOS, bei Abgeordneten von ÖVP und SPÖ sowie des Abg. Stögmüller.)

Bildung geht uns alle etwas an. So können wir nicht mehr weitermachen. Bildung muss zum nationalen Anliegen werden, zu einem Anliegen – und das meine ich in vollem Ernst –, bei dem alle konstruktiven Kräfte zusammenarbeiten, gemeinsam arbeiten. Wir können nicht mehr so weiterwurschteln und aufgrund parteipolitischer Scheuklappen notwendige Reformen verschlafen.

Ich fordere die Bundesregierung deswegen auf, ein großes nationales Reformprojekt für die Bildung zu starten. Die Wege zur besten Bildung sind ja klar aufgezeigt – und vieles davon würden wir ja auch außer Streit stellen können, vielleicht nicht alles, aber vieles –: Schulautonomie, echte Schulautonomie, damit die Herausforderungen dort angegangen werden können, wo sie sind, individuell und autonom; mit der Freiheit, Entscheidungen zu treffen – das wäre wichtig (Beifall bei den NEOS) –; mit einem Lehrer-, Lehrerinnenberuf, der attraktiv ist, in dem Bürokratie aus dem Weg geräumt ist, damit wirklich Zeit bleibt, das zu tun, warum sie eigentlich diesen Job angetreten haben, nämlich sich dem Kind individuell zu widmen; mit mehr Unterstützungspersonal, Schulpsychologinnen und -psychologen, damit auch die mentale Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen, die in den letzten Jahren massiv gelitten hat, endlich in den Fokus gerät und damit auch in dieser Hinsicht die Lehrerinnen und Lehrer ihren Job machen können; mit einem echten Chancenbonus für die Schulen, die natürlich besondere Herausforderungen haben. Es ist simpel ungerecht, was wir machen: dass wir die Schulen, die besondere Herausforderungen haben (Abg. Taschner: Da würde ich nach Wien schauen, Frau Klubobfrau!), also zum Beispiel Brennpunktschulen, auch noch im Stich lassen. (Beifall bei den NEOS.)

Natürlich brauchen wir endlich flächendeckend ganztägige Volksschulen. Das ist einerseits wichtig, um den benachteiligten Kindern alle Chancen zu geben, und andererseits auch wichtig, um in einer modernen Gesellschaft den Familien, insbesondere den Frauen, das Leben zu erleichtern. Das schafft Chancen und natürlich auch eine bessere Integration. (Beifall bei den NEOS.)

Apropos Integration: Wir brauchen natürlich Demokratiebildung (Ruf: Medienbildung!) – Medienbildung, vor allem aber auch Demokratiebildung in der Schule. Sehen Sie denn nicht, wie die Gesellschaft auseinanderdriftet? Daher kommt auch unser Vorschlag mit dem Schulfach Leben in einer Demokratie.

Auch das Bildungssystem muss transparent werden und Vergleichbarkeit ermöglichen. Es kann doch nicht sein, dass wir in vielen Bereichen Transparenz haben und sagen, wir können vergleichen, aber im Bildungsbereich, was Schulen angeht, nicht. Das kann doch nicht sein!

Und natürlich hat die Trennung der Kinder mit zehn Jahren weder pädagogisch noch entwicklungspsychologisch irgendeinen Sinn. (Beifall bei den NEOS und bei Abgeordneten der SPÖ. – Abg. Taschner: O ja, hat einen Sinn!)

Wenn das nicht gelingt, zahlen wir morgen alle den Preis für das Bildungsversagen. Das heißt, wir müssen Bildung über alles stellen. Diese nationale Anstrengung muss uns tatsächlich gelingen, und es kann großartig werden.

Ich möchte jetzt auch sagen, Sorgen sind da, aber es kann auch ein tolles, positives Zukunftsbild machen, denn es ist nämlich genau so, wie es Herr Astner geschrieben hat: Es reicht nicht aus, dass wir darüber reden. Machen wir das, und zwar gemeinsam! Lassen wir uns darauf ein! Schaffen wir etwas, worauf wir in zehn, 15 Jahren zurückblicken und sagen: Boah, da ist uns wirklich Tolles gelungen! Wir haben in Österreich wirklich etwas geschafft, das in keinem anderen Land geschafft wurde: Bildung wirklich an die Spitze zu bringen! Übernehmen wir doch gemeinsam Verantwortung! (Beifall bei den NEOS.)

15.17

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist der Herr Bundesminister. – Bitte.