9.41

Abgeordnete Mag. Sibylle Hamann (Grüne): Lieber Herr Präsident! Lieber Herr Bundesminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich ja schon einigem, was bisher gesagt wurde, anschließen. Was volle Inklusion, volle Teilhabe aller Menschen in allen Bereichen der Gesellschaft betrifft, stimme ich der Diagnose zu: Davon sind wir tatsächlich noch viele Kilometer entfernt.

Ich will einmal versuchen, das Grundproblem, das ich in unserem Land sehe, zu benennen: Ich nenne das den Sortierungswahn. Österreich wendet wahnsinnig viel Energie dafür auf, Menschen auseinanderzusortieren und in Kastln und Schubladen, in Diagnosen, in Wohnhäuser und Schultypen einzuteilen. Man will ständig Menschen dort einordnen, wo sie quasi dazupassen, wo sie unter ihresgleichen sind, statt Menschen einfach so zu nehmen, wie sie sind – mit all ihren individuellen Eigenheiten und in all ihrer Vielfalt.

Ich halte das für einen Riesenfehler, der uns auch enorm viel kostet, und ich will das anhand von ein paar Beispielen aus dem Bereich Bildung, der mir besonders am Herzen liegt, ausführen.

Erstes Beispiel: Bisher gab es diese erbarmungslose Sortierung in arbeitsfähig und nicht arbeitsfähig. Man muss sich das einmal vorstellen: Am Ende der Schulpflicht kommt die PVA und sagt: Du hast eine Behinderung, das wird wohl nichts mehr mit dir, es zahlt sich nicht mehr aus, in eine Ausbildung zu investieren, also ab in eine Tagesstruktur – sehr häufig für Jahrzehnte. Ich halte das tatsächlich für einen unerträglichen Zustand, aber dort, wo wir als Grüne Verantwortung tragen, haben wir das geändert. (Beifall bei den Grünen.)

Der Sozialminister hat es vorhin bereits erwähnt: Diese Aussortierung mit 16 wurde abgeschafft. Den Jugendlichen mit Behinderung stehen jetzt Ausbildungen und AMS-Schulungen sowie Einrichtungen des Jugendcoaching, Programme wie Ausbildungsfit, Lehrberufe und auch Teilqualifizierungen offen. Bis zum Alter von 25 Jahren haben sie Zeit, am Arbeitsmarkt einen Platz zu finden. Das ist ein Riesenfortschritt und richtig, weil manche Jugendliche eben mehr Zeit brauchen, um ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Wir können in Österreich auf diese Jugendlichen auch nicht verzichten.

Dort, wo wir als Grüne nicht direkt Verantwortung tragen, ist es ein bisschen schwieriger, Dinge anzuschieben, aber auch dort kämpfen wir um jeden Zentimeter Fortschritt.

Das Beispiel Kindergärten wurde schon erwähnt. Es sollte – na selbstverständlich, wie Kollegin Nussbaum vorhin gesagt hat – jedes Kind einen Platz haben, aber so ist das nicht. In ganz vielen Gemeinden wird Eltern gesagt: Dein Kind ist irgendwie anders, wir wissen nicht genau, wie wir damit umgehen sollen, gehe lieber woanders hin, bevor es zu kurz kommt! – Für Eltern ist das – dazu erreichen mich ganz, ganz viele Zuschriften – oft ein Spießrutenlauf. Selbst im Land Wien, wo das Kindergartenwesen an sich ja gut ausgebaut ist, fehlen 900 inklusive Plätze in Kindergärten.

Nächstes Beispiel: Pflichtschule. Da geht es um sehr, sehr viele Kinder. Da wird dieser Sortierungswahn, den ich erwähnt habe, besonders deutlich. Da haben wir nämlich etwas, das in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Italien, längst abgeschafft wurde, nämlich voneinander getrennte Häuser. In die einen kommen alle Kinder, die anders sind, und diese Häuser heißen Sonderschulen. Dort sind Kinder mit verschiedensten Behinderungen unter sich. Was bedeutet das gleichzeitig für die Gesellschaft? – Dass einem draußen niemand mehr begegnet. Das halte ich für verheerend.

Das große Paradox ist, dass wir uns diese Trennung im Schulsystem enorm viel kosten lassen. Schulgebäude – Sie werden welche kennen – sind in vielen Gemeinden oft großzügig eingerichtet, es gibt dort viel Expertise und gutes Personal. Vergleichen Sie das einmal mit den inklusiven Klassen in normalen Schulen! Das ist oft wirklich erschreckend: Da fehlen Räume, da fehlt Expertise, da fehlt qualifiziertes Personal, da werden immer mehr Kinder mit SPF in eh schon volle Klassen gesteckt. Manchmal vermute ich tatsächlich, dass dahinter ein System steckt: dass man vielleicht die inklusiven Klassen tatsächlich nicht ganz so attraktiv machen will, um die schönen Sonderschulen vollzukriegen.

Das ist ein uraltes Denken. Interessant ist, dass das – anders als Kollege Ragger vorhin vermutet hat – parteipolitisch nicht unbedingt so deutlich zuordenbar ist. Am weitesten in puncto Inklusion sind die unterschiedlich regierten Länder Kärnten und Steiermark. Die allerhöchsten Sonderschulquoten haben paradoxerweise das rot regierte Wien und das schwarz regierte Niederösterreich. Da trifft man sich dann also doch.

Aus grüner Sicht ist mir dabei vollkommen klar: Wir brauchen einen Schub in die andere Richtung. Wir müssen Mittel radikal umverteilen. Wir müssen weg von dem getrennten Sonderschulwesen hin zu inklusiven Settings. Wir müssen die Sonderschulgebäude öffnen und das große Wissen, das dort ist, für alle in dieser Gesellschaft nutzbar machen. Das sage übrigens nicht nur ich, sondern das sagt auch der Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Warum? – Weil das Sortieren endlich aufhören muss und weil Kinder gemeinsame Erfahrungen machen müssen, damit Inklusion in diesem Land gelingen kann. – Vielen Dank. (Beifall bei den Grünen sowie des Abg. Sieber.)

9.46

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist Frau Abgeordnete Fiedler. – Bitte sehr.