10.29

Abgeordnete Mag. Beate Meinl-Reisinger, MES (NEOS): Herr Präsident! Werter Herr Bundeskanzler! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauerinnen und Zuschauer! Schaut so Europa aus? „Ist das Europa?“ – Das sind die Worte von Milad aus der Kurz­dokumentation “A Short Story of Moria” von Joko und Klaas. Ich habe mir gestern diese Dokumentation angeschaut und ich habe es kaum ertragen. Es ist unerträglich, was Sie dort sehen. Das ist vor wenigen Tagen ausgestrahlt worden.

In diesen 15 Minuten des Films sehen Sie Bilder, die Sie jedenfalls nicht mit Kindern anschauen sollten. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie, wenn Sie es vielleicht bis jetzt geschafft haben, die Augen vor dem, was dort in Moria passiert, zu verschließen, danach nicht mehr die Möglichkeit haben, die Augen zuzumachen. Es wird sichtbar und spürbar, was Tausende Menschen dort tagtäglich erleben, und natürlich ist es durch den Brand noch einmal deutlich verschärft worden.

Man sieht in dem Film, wie Frauen, Männer, Kinder in Booten von der griechischen Küs­tenwache abgedrängt werden, der Motor ruiniert wird und sie hinaus aufs offene Meer geschleppt und dort dann sich selbst überlassen werden. Sie werden dann von der tür­kischen Seewache gerettet, aber da sind die Kinder bereits drei Tage lang ohne Wasser auf dem Boot.

Man sieht Frauen, Männer und Kinder in Plastikplanen auf der Erde – die Plastikplanen werden behelfsmäßig zusammengehalten – und völlig kaputte Sanitäranlagen. Dieses Lager ist für 3 000 Menschen ausgerichtet – 13 000 Menschen sind dort. Man sieht dann auch den Brand und man sieht, wie die Menschen fliehen. Man sieht, wie die Polizei auf einmal mit Tränengas auf die Menschen schießt, sie bekämpft und wie auch Kinder das Tränengas abbekommen.

Ist das Europa? Schaut so Europa aus? – Herr Bundeskanzler, Sie haben in einem Vi­deo gesagt, dass diese schrecklichen Bilder niemanden kaltlassen, aber dass sie an andere Flüchtlingslager in anderen Teilen der Welt erinnerten. Dieses Lager aber ist nicht in anderen Teilen der Welt, dieses Lager ist in Europa. Es ist mitten in Europa, in dem Kontinent, der eine Wertegemeinschaft ist, in dem wir uns der Menschenwürde und den Menschenrechten verschrieben haben. Das ist unser europäischer Boden! (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordneten von SPÖ und Grünen.)

Sie sagten in dem Video, wenn man jetzt helfe, dann würde eine neue Welle wie 2015 entstehen. – Das ist unredlich. Vor allem aber sagt das ja eines, nämlich dass Sie diese Menschen dort ganz bewusst als quasi menschliche Schutzschilde, als Abschreckungs­szenario einsetzen, damit andere Menschen nicht kommen, weil sonst ja dieser Pullef­fekt eintreten würde – von Pusheffekten reden Sie ja nicht.

Das heißt, im Europa des Jahres 2020 benützen wir Menschen, darunter Kinder, und ihre Schicksale als Abschreckungsszenario für andere Menschen. Was hat das mit Men­schenwürde und unserem Verständnis von Menschenwürde zu tun, meine sehr geehrten Damen und Herren? (Beifall bei NEOS und SPÖ sowie bei Abgeordneten der Grünen.)

Heute wird die Kommission einen Vorschlag, einen Vorstoß dahin gehend machen – getragen auch gerade von der deutschen Ratspräsidentschaft –, dass es eine neue Lö­sung für ein gemeinsames europäisches Asylsystem gibt, das Sie ja angeblich auch wollen. Was aber machen Sie? – Sie richten jetzt schon aus: Die EU-Politik ist geschei­tert! – Ja, an Ihnen, an Ihrer Blockade. (Beifall bei NEOS und SPÖ sowie der Abg. Götze.)

Sie richten aus, es müssten sich jetzt einmal die kleinen Länder gegen die Dominanz der großen durchsetzen, und erwähnen – was richtig ist –, dass Österreich in der Flücht­lingskrise 2015 einen sehr großen Beitrag geleistet hat. Was ist das für ein Argument? Liegt es nicht gerade dann im Interesse der kleinen Länder, die einen solchen Beitrag geleistet haben, dass alle solidarisch agieren, dass man sich dafür einsetzt, dass alle Länder auch Lasten und Bürden übernehmen und nicht nur ein Cherrypicking erfolgt? – Das ist kein Argument, Herr Kanzler, das ist ein Scheinargument, und es ist untragbar, wenn Sie weiterhin eine europäische Flüchtlingspolitik blockieren. (Beifall bei NEOS und SPÖ sowie der Abg. Blimlinger.)

Nein, so schaut Europa nicht aus – nicht mein Europa! Das ist eine Schande, und wir weisen seit vielen, vielen Monaten darauf hin. Das ist mir jetzt ganz besonders wichtig: Wir als NEOS weisen seit März, aber schon davor, jedenfalls ganz massiv seit dem Aus­bruch von Corona Woche für Woche darauf hin, welche Zustände dort herrschen und was dort passieren wird. Eine gute Politik, eine vorausschauende Politik agiert oder re­agiert nicht dann, wenn etwas passiert, sondern sie schaut, dass nichts passiert. Sie haben monatelang weggeschaut, monatelang die Augen verschlossen, den Kopf im Sin­ne von: Wenn es nicht in unseren Zeitungen ist, dann existiert es vielleicht auch gar nicht!, in den Sand gesteckt. Das Problem ist aber da, dieses Problem muss gelöst wer­den, und es wird definitiv nicht gelöst, wenn man einen gemeinsamen europäischen Weg weiterhin blockiert.

Das hat auch mit Leadership zu tun – Leadership ist das Thema, das zunehmend in Zweifel gerät, auch in dieser Coronakrise –, es hat aber auch damit zu tun, wie Öster­reich sich in Europa positioniert. Stattdessen hat man Sätze wie den des Herrn Außen­minister Schallenberg gehört: Immer wenn etwas passiert, gibt es ein „Geschrei nach Verteilung“. – Das ist Zynismus und in meinen Augen eine ungeheure Präpotenz, wenn man andere Ansichten, andere politische Meinungen als „Geschrei“ abtut. (Beifall bei NEOS und SPÖ sowie bei Abgeordneten der Grünen.)

Man kann nicht alle retten – nein, das können wir nicht –, es sei ja nur eine „Symbolpoli­tik“. – Die Antwort des grünen Regierungspartners war, dass das zynisch sei, aber weiter ist nichts passiert. Man könnte da durchaus darüber reden, wie sehr die Grünen schon in vielen Bereichen zum Steigbügelhalter geworden sind. Ich danke auch meinem Kol­legen Yannick Shetty, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass bis jetzt so wenig im Klimaschutz passiert ist, dass man damit nicht rechtfertigen kann, dass man ansonsten alle Werte über Bord geworfen hat. (Beifall bei den NEOS und bei Abgeordneten der SPÖ.)

Ich möchte jetzt aber nicht dieses Grünenbashing fortsetzen, sondern ich richte mich ganz bewusst an die ÖVP: Dieses „Geschrei nach Verteilung“, nach einem gemeinsa­men europäischen Weg, der auch eine solidarische Komponente beinhaltet, das kommt nicht von linkslinken Gutmenschen, das kommt aus der Mitte der Politik, aus der Mitte der Gesellschaft. Es ist Ihr CSU-Kollege Horst Seehofer, der gesagt hat, er sei von Ös­terreich enttäuscht: „Ich bin von der Haltung unserer österreichischen Nachbarn ent­täuscht, sich an der Aufnahme einer überschaubaren Zahl von Schutzbedürftigen“ – es geht um Kinder, es geht um Familien – „aus Griechenland nicht zu beteiligen.“ – Er sagt auch weiter: „In einer solchen Situation muss Europa Geschlossenheit zeigen. Wenn wir nichts tun, stärken wir die politischen Ränder.“

Ich bin davon überzeugt, dass er recht hat. Das ist eine Politik der Mitte, die nach Lö­sungen sucht und nicht ständig die Probleme groß hält. Es ist eine Politik der Mitte, die Menschlichkeit und Empathie in den Vordergrund stellt. Es ist eine Politik der Mitte, die sagt: Wir können etwas tun. – Es ist eine Politik der Mitte, die Aussagen, denen zufolge es sich um reine Symbolpolitik handelt, eine Absage erteilt, weil das – und ich sage Ihnen das noch einmal mit Blick auf dieses Video „A Short Story of Moria“ – für diese 100 Kin­der oder Familien, die wir dort gesehen haben, denen wir helfen können, für die auch viele Menschen in Österreich bereit sind, einen Beitrag zu leisten, keine Symbolpolitik ist. Es geht um deren Leben, es geht um deren Zukunft und es geht um deren Chancen. Nehmen Sie sich ein Herz, geben Sie sich einen Ruck und holen wir diese Kinder und Familien aus Moria! – Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei NEOS und SPÖ sowie bei Abgeordneten der Grünen.)

10.38

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist der Herr Bundeskanzler. – Bitte.