Parlamentskorrespondenz Nr. 637 vom 21.06.2011

ExpertInnen beleuchten Lage der Jugend in Österreich

Familienausschuss veranstaltet Hearing zum sechsten Jugendbericht

Wien (PK) – Mit einem Hearing startete der heutige Familienausschuss seine Beratungen zum 6. Bericht zur Lage der Jugend in Österreich (III-248 d.B.). Neben Bundesminister Reinhold Mitterlehner kamen dabei Angehörige der diesbezüglichen Sachverständigenkommission sowie FraktionsexpertInnen zu Wort.  

Der aktuelle Bericht zur Lage der Jugend in Österreich, der sich aus verschiedenen wissenschaftlichen und praxisbezogenen Beiträgen speist, bietet nicht nur einen Überblick über das Leistungsangebot der heimischen Jugendarbeit, sondern versammelt auch jugendspezifische Erkenntnisse aus verschiedensten Fächern und Disziplinen. Die dadurch zustande kommende Heterogenität der Betrachtungsweisen bezeichneten alle ExpertInnen als grundsätzlich begrüßenswert. Kritik übten einige von ihnen aber an der Tatsache, dass vor allem die Zusammenfassung des Berichts widersprüchliche Ergebnisse in unzureichendem Maße kommentiere und Argumentationslinien verkürzt wiedergebe.

Mitterlehner: Jugendthemen bilden eine Querschnittmaterie

Familienminister Reinhold Mitterlehner skizzierte die Entstehungsgeschichte des Jugendberichts, die bis ins Jahr 2008 und damit in den Zuständigkeitsbereich der vormaligen Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky zurückreiche. Das vorliegende Konvolut sei interdisziplinär und thematisch überaus breit aufgestellt, führte er aus. Auch wäre dieser Bericht erstmals unter Führung einer unabhängigen Sachverständigenkommission entstanden, die für die Auswahl der AutorInnen, die Qualitätsüberprüfung der Beiträge sowie die Erstellung der abschließenden Empfehlungen verantwortlich zeichne.

Der Bericht mache dabei überaus deutlich, dass Jugendthemen immer Querschnittmaterien seien, zu deren Behandlung mehr als nur ein Ministerium berufen sein müsse. Es gelte allerdings, die Koordination der diesbezüglichen Bemühungen zu verstärken, bemerkte Mitterlehner.

Ressourcenorientierung als wesentlicher Aspekt des Berichts

Eva Dreher (Ludwig Maximilians-Universität München), Sabine Liebentritt (bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit) und Stephan Sting (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) erläuterten als Mitglieder der unabhängigen Sachverständigenkommission die bei der

Erstellung des Berichts wesentlichen Aspekte, zu denen unter anderem auch eine verstärkte Ressourcenorientierung zähle. Wenn es um Jugendliche geht, dürften schließlich nicht immer nur Defizite thematisiert werden, zeigte sich Dreher überzeugt: Es müssten auch die Ressourcen junger Menschen entsprechend gewürdigt und Aufbaupotentiale in den Fokus genommen werden. Für Dreher stand zudem außer Frage, dass die Praxis – und hier vor allem die Jugendpolitik – von den zusammengetragenen Erkenntnisse profitieren könne: Sie verwies in diesem Zusammenhang unter anderem auf die im Bericht enthaltenen Forschungsergebnisse der Entwicklungspsychologie. Dreher plädierte außerdem für die Etablierung einer modernen Jugendforschung in Österreich mit entsprechender Vernetzung mit Institutionen der Jugendarbeit und ausreichender finanzieller Ausstattung.

Sabine Liebentritt unterstrich den praktischen Bezug des vorliegenden Berichts. Da er den "Blick von außen" mit dem "Blick nach innen" verbinde, könne man, so die Expertin für Jugendarbeit, von einem äußerst spannenden Ergebnis sprechen. Ihr sei es besonders wichtig gewesen, herauszustellen, dass es "die Jugend" nicht gibt: Es gelte deshalb, differenziert an die Themenstellung heranzugehen und die Sicht der Erwachsenen mit jener der Jugendlichen abzugleichen. Dass man der Jugendarbeit im Bericht breiten Raum widme, hielt Liebentritt für besonders begrüßenswert: Sie sei schließlich eine wesentliche "Partnerin" der Jugendpolitik und ermögliche den Brückenschlag von der "Welt der jungen Menschen" in die "Welt der Erwachsenen.

Stephan Sting nutzte seine Wortmeldung um Kritik an Pauschalurteilen, die über Jugendliche gefällt würden, zu üben. Wie der vorliegende Bericht darlege, gebe es schließlich keinen Grund zur "Dramatisierung": Vor allem die aus den Abschnitten betreffend Sucht und Gewaltbereitschaft zu beziehenden Erkenntnisse zeigten, dass Jugendliche vorschnell stigmatisiert würden. Sting wünschte sich deshalb eine differenziertere Berichterstattung über Jugendthemen und eine eingehendere Betrachtung ihres Problemverhaltens: Sehe man genau hin, so zeige sich schließlich, dass die Ursachen für Defizite und Konflikte häufig im Umfeld der Jugendlichen zu finden seien. Gegen eine vorschnelle Kriminalisierung typischer jugendlicher Verhaltensweisen verwehrte sich Sting deshalb explizit.

Gnauer: Jugendwohlfahrt darf nicht mit dem 18. Lebensjahr enden

Michael Gnauer (SOS-Kinderdorf) skizzierte, der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Gesamtgesellschaft sei zwar rückläufig, die Zahl der von der Kinder- und Jugendwohlfahrt zu betreuenden Fälle nehme jedoch stetig zu. Angesichts dieser Tatsache könne man aber nicht nachvollziehen, wie es um die rechtlichen Grundlagen für diese Tätigkeit bestellt ist: Das Jugendwohlfahrtsgesetz datiere schließlich aus einer Zeit, in der Handys und Internet noch nicht zum Alltag gehörten. Der Entwurf zu einem neuen sei "zahnlos", noch immer nicht ausverhandelt und lasse die Gruppe der über 18-Jährigen außen vor, kritisierte Gnauer. Dass man Jugendliche im Rahmen der Jugendwohlfahrt nur noch bis zum Erreichen dieses Alters betreuen könne, sei nicht einsehbar und entspreche auch nicht der Realität der Betroffenen: Schließlich setzten auch Väter und Mütter ihre Kinder nicht einfach auf die Straße, sobald sie die Großjährigkeit erreichten, schloss Gnauer.

Heinzlmaier: Jugendbericht lebt von einzelnen "Highlights"

Bernhard Heinzlmaier (Institut für Jugendkulturforschung, tfactory-Trendagentur) bezeichnete den vorliegenden Bericht als grundsätzlich positiv, zumal er – angesichts der Perspektivenvielfalt seiner Beiträge – dem Prinzip des "Wahrheitspluralismus" verpflichtet sei. Diese Heterogenität gehe jedoch auch mit einigen negativen Aspekten einher: Heinzlmaier kam in diesem Zusammenhang nicht nur auf unterschiedliche Qualitätsniveaus der Abhandlungen, sondern auch auf die seines Erachtens wahrzunehmende Übergewichtung des entwicklungspsychologischen Ansatzes bei zeitgleicher Unterrepräsentation gesellschaftskritischer Denkmodelle zu sprechen. Auch gelinge es der in einem eigenen Band publizierten Zusammenfassung des Berichts nicht, Widersprüchliches im notwendigen Maße zu kommentieren, merkte Heinzlmaier an. Er empfehle den Abgeordneten daher in jedem Fall die Lektüre des mehr als 600 Seiten starken Berichts, wenngleich auch er nur von "einzelnen Highlights" lebe.

Ikrath: Themensetzung repräsentiert Interessen der Jugend

Philipp Ikrath (Institut für Jugendkulturforschung) attestierte dem Bericht, ein im Großen und Ganzen differenziertes Bild der Jugend zu zeichnen und begrüßte, dass in ihm AutorInnen aus Wissenschaft und Praxis zu Wort kommen. Lob sprach der Experte auch für die Themensetzung, die die Interessen der Jugend relativ stark repräsentiere, und die Aufnahme eines eigenen Beitrags zum Thema bildungsferne Jugendliche aus. Was die Erstellung des nächsten Berichts anbelange, regte Ikrath an, qualitative Ansätze stärker zu berücksichtigen und damit den Perspektiven der Jugend größeres Gewicht beizumessen.

Nachtmann: Wesentliche Fragestellungen bleiben ausgeklammert

Gerfried Nachtmann (Obmann des Freiheitlichen Familienverbands) äußerte sich positiv dazu, dass in den Bericht entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse eingeflossen sind, attestierte dem Gesamtwerk jedoch einen Mangel an Rohdaten, aus denen die Leserschaft eigene Schlüsse ziehen könne. Kritik übte der Experte auch an der Tatsache, dass wesentliche Aspekte wie etwa bildungs- und frauenpolitische Fragen in Hinblick auf die zweite Generation türkischer MigrantInnen ausgespart blieben und der Begriff Familie nur in negativen Zusammenhängen vorkomme. Nachtmann sprach deshalb von "ideologischer Verblendung" und angesichts der Empfehlung, ein Jugend- und Familienministerium bzw. einen Jugendausschuss einzurichten, von "wenig Verständnis für die politische Realität". Hinterfragt wissen wollte der Experte aber auch die Zusammensetzung der Sachverständigenkommission, die den Bericht erstellt hat: Ihm zufolge sei es nicht nachvollziehbar, warum die Vertreterin der muslimischen Jugend als einzige Jugendvertreterin dem Gremium angehört hat.

Nagel: Jugendpolitik muss höherer Stellenwert beigemessen werden

Philipp Nagel (JVP-Bundesjugendvertretung) begrüßte die Heterogenität und den positiven Jugendbegriff des vorliegenden Berichts und kam sodann auf die Schlussfolgerungen, die aus ihm gezogen werden müssten, zu sprechen. Ihm zufolge zeigten die hier versammelten Beiträge auf, dass die auf die Jugend projizierten Probleme häufig gesamtgesellschaftlicher Natur seien und es zahlreiche Punkte gebe, an denen man politisch ansetzen müsse. Angesichts der prekären Arbeitsmarktsituation junger Menschen und den Folgen des demografischen Wandels gelte es schließlich, den Stellenwert der Jugendpolitik zu erhöhen und eine langfristige Planung, bei der ein "roter Faden" erkennbar sei, in Angriff zu nehmen. Eine solche Politik müsse aber auch unter Beteiligung junger Menschen und Einbeziehung der Jugendarbeit erfolgen, zeigte sich Nagel überzeugt.

Schmid: Daten und Fakten beschreiben die Lage der Jugend nicht

Anton Schmid (Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien) merkte an, dass der vorliegende Bericht zwar ein guter statistischer Beitrag sei, sich die Lage der Jugend in Österreich aber nicht mit Zahlen, Daten und Fakten umschreiben lasse. Gehe man lediglich von dieser Basis aus, erhalte man schließlich nur ein äußerst oberflächliches Bild. Zahlen seien trügerisch und in der Jugendpolitik deshalb durchaus problematisch, skizzierte er. Kritik übte Schmied außerdem daran, dass es dem Bericht an Verknüpfungen und konkreten Empfehlungen für die Politik mangle. Die Berichterstattung über Jugendthemen charakterisierte der Experte als "falsch und voller Lügen": Die zunehmende Gewaltbereitschaft, die man Jugendlichen attestiere, entspreche nicht der Realität.

Unterberger: Grundstein für eine wissensbasierte Jugendpolitik legen

Christina Unterberger (Bundesjugendvertretung) zeigte sich erfreut darüber, dass der vorliegende Bericht Beiträge aus Wissenschaft und Praxis vereine. Die Ergebnisse, die er enthalte, zeigten schließlich, dass unterschiedliche Faktoren auf die Entwicklungschancen von Jugendlichen einwirkten, weshalb es sich mit den strukturellen Voraussetzungen zu befassen und der Jugendarbeit entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen gelte. Für Unterberger stand darüber hinaus außer Frage, dass das Ziel einer wissensbasierten Jugendpolitik nur mit entsprechender Grundlagenforschung erreicht werden könne, an der es allerdings noch mangle. Wesentlich sei außerdem die Partizipation der Jugendlichen, stellte die Expertin fest. Die Empfehlung der Einrichtung eines eigenen Jugendministeriums hielt sie angesichts dieser Herausforderungen für berechtigt.

Abgeordnete diskutieren Ergebnisse des Berichts

In einer Frage- und Diskussionsrunde erläuterten schließlich Abgeordnete aller Fraktionen ihre Sicht auf den gegenständlichen Bericht. Dabei kam man nicht nur auf die Verhandlung des neuen Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetzes, sondern auch auf Partizipationsmöglichkeiten für junge Menschen und jugendspezifische Angebote des Familienministeriums zu sprechen.

Die S-Abgeordneten Gabriele Binder-Maier und Angela Lueger erkundigten sich danach, wie mit den Ergebnissen des Berichts – vor allem in Hinblick auf die Problematik "Generation Praktikum" – von Seiten des Familienministeriums umgegangen werde. Ihre Fraktionskollegin Rosemarie Schönpass wollte darüber hinaus wissen, welche Schlussfolgerung man aus dem Umstand zu ziehen gedenke, dass 84% der Jugendlichen laut Bericht mehr Aufklärung über sexuelle Praktiken wünschten.

V-Mandatarin Silvia Fuhrmann bewerte es als positiv, dass erstmals auch das Thema Generationengerechtigkeit im Bericht aufgegriffen wurde und hoffte, dass die Befunde in Hinblick auf den Bereich Bildung auch in die gegenwärtige Reformdebatte einfließen. Ihr Fraktionskollege August Wöginger kam in seiner Wortmeldung auf die Arbeitsmarktsituation junger Menschen zu sprechen und verwies in diesem Zusammenhang auf die Forderung der JVP nach Erhöhung der Einstiegsgehälter.

F-Abgeordneter Norbert Hofer thematisierte die finanziellen Probleme von Gemeinden in Hinblick auf die Etablierung von Jugendeinrichtungen und hielt es für notwendig, Klagen über die Jugend hintanzuhalten. Mandatar Christian Höbart (F) ortete angesichts der Ergebnisse des Berichts Handlungsbedarf in einigen Bereichen: Ihm zufolge gelte es, sich dabei unter anderem mit den Themen Gewalt, Bildung, Migration, Konsumzwang und Schönheitswahn auseinanderzusetzen.

G-Abgeordnete Daniela Musiol machte auf die Tatsache aufmerksam, dass es sich bei vielen Problemfeldern nicht ausschließlich um Jugendthemen handle. Es gelte aber die Frage zu stellen, wie man hier mit jugendspezifischen Maßnahmen ansetzen könne. Musiol regte in diesem Zusammenhang auch die Einsetzung eines Unterausschusses des Familienausschusses an, um die Erkenntnisse und Empfehlungen des gegenständlichen Berichts eingehender diskutieren zu können, und übte Kritik an der Aufschiebung des neuen Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Ihre Fraktionskollegin Judith Schwentner erkundigte sich nach den Maßnahmen, die das Familienministerium zur Verbesserung der Bildungssituation junger MigrantInnen setze.

B-Mandatarin Ursula Haubner stellte fest, dass die Politik den Anliegen junger Menschen größeres Augenmerk schenken müsse und erkundigte sich nach Erwägungen des Familienministeriums, die Bundesjugendvertretung als Sozialpartner in wesentliche Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Die Abgeordnete interessierte sich darüber hinaus auch dafür, wann das bundeseinheitliche Jugendhilfegesetz vorliegen werde.

Familienminister Reinhold Mitterlehner versicherte, aus den vorliegenden Erkenntnissen würden im Sinne eines analytischen Vorgehens schrittweise Konsequenzen gezogen. Was die Partizipation der Jugendvertretung anbelange, stehe er ihr grundsätzlich positiv gegenüber. Um ihre Einbeziehung als Sozialpartner zu ermöglichen, bedürfe es aber noch "des Bohrens dicker Bretter". In Hinblick auf das Bundes-Kinder-und Jugendhilfegesetz gab Mitterlehner zu bedenken, dass die Umsetzung zur Zeit noch an einigen Bundesländern scheitere, die mit der Höhe der Anschubfinanzierung durch den Bund nicht zufrieden seien. Durch das nunmehr unterbreitete, neue Finanzierungsangebot, hoffe er, bald eine Lösung dieser dringlichen Frage vorlegen zu können.

Was die Vereinheitlichung der Jugendschutzbestimmungen anbelange, handle es sich um ein äußerst emotionales Thema. Nach Gesprächen mit der Bundesjugendvertretung wolle man aber weitere diesbezügliche Schritte setzen, stellte der Familienminister in Aussicht.

In Hinblick auf die Fragen betreffend "Generation Praktikum", Integrationsförderung, Sexualaufklärung und Verschuldung verwies Mitterlehner auf das umfangreiche Informationsangebot seines Ministeriums und Bemühungen um die Verankerung weiterführender Förderangebote.

Der sechste Bericht zur Lage der Jugend in Österreich wurde einstimmig zur Kenntnis genommen. Auf die Enderledigung im Ausschuss wurde mit Stimmeneinhelligkeit verzichtet. (Schluss)